Vertrauen statt Angst
Inhalt
Jede vierte Frau, jeder siebte Mann in Österreich geben laut Studien an, in der Kindheit körperliche Gewalt erlebt zu haben. Bei sexueller Gewalt sind jedes fünfte Mädchen, jeder elfte Bub betroffen. Es sind Zahlen, die erschrecken und dennoch nicht das ganze Ausmaß zeigen. Denn viele Fälle werden nie bekannt, viele Kinder nie gehört. Gewalt entsteht oft aus Sprachlosigkeit, aus Überforderung, aus dem Fehlen von Auswegen. Deshalb setzt Prävention früh an: Kinder brauchen Worte für ihre Gefühle. Erwachsene brauchen Unterstützung, bevor sie überfordert sind. Und die Gesellschaft braucht mehr Aufmerksamkeit für das, was nicht sichtbar ist. Ein entscheidendes Problem ist, dass Gewalt in Familien nicht das Gesicht des „klassischen Täters“ hat. Viele der gewaltausübenden Elternteile sind sozial eingebunden, freundlich und hilfsbereit. Sie verhalten sich nach außen kontrolliert, beruflich erfolgreich, gesellschaftlich akzeptiert. Das macht es so schwer, Hinweise ernst zu nehmen und den Aussagen betroffener Kinder zu glauben. Oft wird die Verantwortung sogar umgekehrt. Sätze wie „So etwas würde er nie tun“ oder „Sie wirkt doch so liebevoll“ stehen schnell mal im Raum. Dabei liegt genau darin das größte Risiko, nämlich, dass den Kindern nicht geglaubt wird, weil die Täter:innen so normal erscheinen.

Blinder Fleck.
Gewalt gegen Kinder wird in Österreich oft mit Verwahrlosung, Armut oder „Problemfamilien“ assoziiert. Die Realität sieht jedoch oft anders aus. Gewalt kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor – unabhängig von Bildung, Einkommen, Herkunft oder Image. Was diese Fälle verbindet: Die Täter:innen sind fast immer Personen aus dem direkten Umfeld des Kindes. In der Mehrzahl handelt es sich um Mütter, Väter oder andere nahe Bezugspersonen. Psychische Gewalt, physische Übergriffe, sexualisierte Handlungen, strukturelle Vernachlässigung – all das geschieht täglich, meist unbemerkt. Laut Expert:innen zählt häusliche Gewalt zu den häufigsten Gefahren für Kinder. Trotzdem wird sie häufig verharmlost oder übersehen. Die Fachleute in Linz kennen diese Realität aus nächster Nähe und kämpfen Tag für Tag dagegen an.
Was Kinder ertragen.
Viele betroffene Kinder verhalten sich nach außen angepasst. Sie funktionieren. In der Schule oder im Kindergarten fallen sie nicht auf. Manche sind überangepasst, extrem ruhig, aufmerksam oder leistungsorientiert. Andere zeigen Angstreaktionen, ziehen sich zurück oder wirken auffällig reizbar. Diese Verhaltensweisen sind nicht „Probleme“, sondern Bewältigungsstrategien. Kinder, die schwere Gewalterfahrungen gemacht haben, ohne jemals darüber gesprochen zu haben, tragen alles in sich, in der falschen Annahme, dass sie selbst daran schuld seien. Diese Schuldgefühle entstehen oft, weil die Gewalt, die diesen Kindern widerfährt, nicht als Unrecht erkannt wird oder weil das Kind emotional an den Täter oder die Täterin gebunden ist.

Gewalt hat viele Gesichter.
Gewalt beginnt nicht mit der Faust, nicht mit dem ersten Schlag. Sie beginnt oft mit Angst, Kontrolle, Einschüchterung. Eine ständige Abwertung des Kindes, ein bedrohlicher Ton, gezieltes Ignorieren, seelische Entwertung. All das kann tiefgreifende Schäden hinterlassen. Denn gar nicht selten ist körperliche Gewalt nur die sichtbare Folge eines weitaus umfassenderen Machtmissbrauchs und längst nicht die häufigste Form. Denn gerade psychische Gewalt ist besonders schwer greifbar. Sie findet in vermeintlich „funktionierenden“ Haushalten statt und wird nach außen oft mit schöner Fassade und Fleiß überdeckt. Die Therapeut:innen sind sich einig: „Wir sehen keine Milieus – wir sehen Muster. Und die wiederholen sich überall.“
Hinschauen statt wegsehen.
Auch in Ausbildungseinrichtungen – von Pädagogik bis Medizin – wird das Thema oft nur am Rande behandelt. Dabei sind Lehrer:innen, Ärzt:innen, Sozialarbeiter:innen oft die Ersten, die Hinweise bekommen. Hier braucht es Sensibilisierung, klare Handlungswege und unterstützende Netzwerke. Denn es reicht nicht, Gewalt abzulehnen – wir müssen sie erkennen und wirksam stoppen. Der Appell ist klar: Kinderschutz ist kein privates Thema. Wir alle haben Verantwortung, wenn uns etwas auffällt. Es ist nicht unsere Aufgabe zu urteilen, aber sehr wohl, genau hinzuschauen, zu hinterfragen, Hilfe anzuregen. Jedes Kind hat das Recht auf Schutz und jedes Kind hat das Recht, ernst genommen zu werden.