Vorwärts in die Vergangenheit?
Die Klima-Pionierin Helga Kromp-Kolb brachte das Jahr 1978 in eine breite Diskussion ein. Warum gerade 1978?
Kurt Bayer: Weil das Nationalprodukt in Österreich 1978 ziemlich die Hälfte von dem im Jahr 2024 betrug. Kromp-Kolb stellt die These auf, ob es eigentlich eine große Katastrophe wäre, wenn die Wirtschaft nicht weiterwachsen würde. Wären wir dann in der Steinzeit? Nein, das wären wir nicht. Damals ging es uns relativ gut. Gemessenes Wirtschaftswachstum ist daher nicht alles. Es macht viele Menschen nachweislich nicht glücklicher. Das relativiert die allgemeine Wirtschaftspolitik.
Gemeinschaft als Lebensgefühl schlägt also Individualismus?
Bayer: Bei der fortschreitenden Amerikanisierung des Lebensgefühls spielt das Individuum eine stärkere Rolle. Thatcher hat in den 1970er Jahren gesagt: Gesellschaft gibt es nicht, es gibt nur Individuen. 1978 gab es Termini wie Selbstoptimierung oder die Ich-AG, die sich gegen alle behaupten muss, noch nicht. Seit Thatcher und Reagan haben sich diese Begriffe aber sehr stark durchgesetzt. Thatcher hat die Gewerkschaften zerschlagen und die Industrie in den Ruin geführt. Der Finanzsektor sollte nun die Spitze des Kapitalismus sein. Damals war in der englischen Grundstoffindustrie, aber auch in der verstaatlichten Industrie in Österreich der Grad der gewerkschaftlichen Organisierung fast 100 Prozent. Man hat gemeinsam gearbeitet und gemeinsam verhandelt. Das ist durch dieses „There is nothing like society“ bzw. durch „There is no alternative“ verloren gegangen.
„There is no alternative“ wurde in der Wirtschaftswissenschaft zum Dogma. Ist die Wirtschaftswissenschaft mehr vom Glauben an ein System als von Wissenschaft geprägt?
Bayer: Ökonomie ist keine physikalische Wissenschaft, sondern eine Gesellschaftswissenschaft, daher gibt es immer Alternativen. Natürlich gibt es Interessen, aber keine 100%igen Gesetzmäßigkeiten. Ein großer Teil der Wirtschaftswissenschaft in den vergangenen 40 Jahren geht mehr in Richtung einer Mathematisierung der Ökonomie. Aus England kommt das Dogma: Alles, was man nicht messen kann, kann man nicht steuern. Das widerspricht aber einem breiteren Verständnis von Wirtschaften, nämlich dort, wo es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Umwelt geht. Mein guter Freund Stephan Schulmeister meint, dass Hayek und Co. alles minutiös geplant hätten. Sie hätten sich vorgenommen, ihre Leute auf die Unis zu bringen, um die Wirtschaftspolitiker zu bekommen, die ihr Modell umsetzen. Das halte ich für ein wenig Verschwörungstheorie. Dennoch wird heute fast nur Neoklassik gelehrt. Ich war zehn Jahre im Finanzministerium tätig und wir konnten damals kaum Studenten aufnehmen, weil sie keine Ahnung und Verständnis hatten, wie man etwas in ein Gesetz bringt. Sie haben rein mathematische Modelle gelernt.

FDP-Chef Christian Lindner meinte kürzlich, man müsse mehr Milei und Musk wagen. Geht es nicht gerade in eine ganz andere – radikalere – Richtung?
Bayer: Die starke Strömung der Chicago Boys hat sich überlaufen. Man sieht das an der Polarisierung. Ein CEO im Finanzsektor in Österreich verdient rund 80-mal so viel wie ein Angestellter. In Großbritannien oder in den USA ist das 200- bis 300-mal so viel. Dieses Wirtschaftssystem führt zu Ungleichheiten und zum Verschwinden der Mittelklasse. Das Ergebnis: Die Leute rennen den Populisten nach. Auch der Klimawandel hat diese Art des Wirtschaftswachstums in den vergangenen 50 Jahren auf den Kopf gestellt. Das neoliberale System hat sich selbst das Wasser abgegraben. Die multiplen Krisen zeigen, dass Wirtschaft, so wie wir sie betreiben, nicht mehr funktioniert. Auf der anderen Seite gibt es quasi diesen Rückschlag mit Milei und Trump, wenngleich man bei Trump nicht weiß, welche Richtung er eingeht. Diese sehr stark wirtschaftskonservative Politik hat in Deutschland zum Bruch der Ampel geführt. Es gibt auch in Österreich aktuell einen Trend in diese Richtung – Stichwort „Budgetkonsolidierung“. Die kolportierten 6,3 Mrd. betreffen kaum Unternehmen, fast alles zielt auf den Privatsektor ab, gleichzeitig will man die grüne Transformation ausbremsen. Das ist ein Wiederaufflammen der neokonservativen Wirtschaftspolitik.
Müssen wir uns in einer Welt schwindender Ressourcen zurückschrumpfen („Degrowth“) und wenn ja, wäre dieses Schrumpfen nicht gleichzeitig das Ende des Kapitalismus?
Bayer: Man muss davon wegkommen, dass man die Wirtschaftspolitik auf ständiges Wachstum ausrichtet. Der Planet hat zu wenig Platz und Ressourcen. Es gibt immer die Diskussion mit Wachstumskritikern wie Kromp-Kolb oder ich es sind, wo es dann heißt: „Wenn Ihr die grüne Transformation wollt, wollt Ihr denn dann nicht, dass ein einzelner Sektor stark wächst?“ Der Unterschied ist, dass diese Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik nicht mehr das Ziel des BIP-Wachstums verfolgt. Daher muss man das Wachstum in die Bereiche lenken, die für die langfristige Tragfähigkeit der Wirtschaft positiv sind. Dass andere Bereiche schrumpfen werden, ist klar. Auch muss man darüber nachdenken, ob sich das arbeitsplatzmäßig ausgeht oder ob mit der Digitalisierung vollkommen andere Formen der Arbeitsvolumina kommen. Man muss sehen, was das Negative an den aktuellen Wachstumsmodellen ist, etwa der Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts oder das Anheizen der Klimakatastrophe. Unternehmen verhalten sich da oft widersprüchlich. Wir haben in Österreich rund 370.000 Arbeitslose und trotzdem keine Fachkräfte, weil Unternehmen weniger Fachkräfte ausbilden als früher. Sie erwarten das aber vom Staat, obwohl sie Interventionen vom Staat ablehnen.

Aktuell steigt die Zahl der Autokratien. Inwieweit hängen wirtschaftspolitische Modelle und die Zustimmung zur Demokratie zusammen?
Bayer: Frau Merkel hat von einer marktkonformen Demokratie gesprochen. Die Kritiker meinten, man müsse die Wirtschaft so umbauen, dass sie Demokratie erlaubt. Die alte Kreisky-Nostalgie spricht von der Durchflutung der Gesellschaft mit Demokratie. Die Bevölkerung soll überall mitreden dürfen. Ich glaube, dass dieser Ansatz eine Lösung der aktuellen Probleme ist, dass man den Verlust des Politikvertrauens nur dadurch abbauen kann, indem man mehr Personen – möglichst viele – in den Prozess miteinbezieht. Nicht so wie in Kärnten bei der Volksabstimmung zu den Windrädern mit einem völlig verwirrenden Text, sondern in einer offenen Diskussion und mit klarer Information.
1978 gab es keine sozialen Medien, die oft als gesellschaftlicher Spaltpilz gesehen werden. Provokant gefragt: Müsste man die sozialen Medien wieder abschaffen, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherzustellen?
Bayer: Ich war 25 Jahre in der Wirtschaftsforschung. Ich glaube, man kann technische Entwicklungen nicht zurückdrehen und abschaffen, aber man kann sie besser machen und ordentlich regulieren. In den USA passiert gerade das Gegenteil. Man muss überprüfbare Regeln finden. Dinge, die den Fakten widersprechen, kann man sehr wohl verbieten. Wenn das funktionieren würde, dann hätten wir die positiven Effekte von Social Media, etwa, dass man viele Leute mit wahren Nachrichten versorgen könnte. Aber Social Media ist natürlich eines der Probleme. In den 1970er Jahren trafen sich bei Wahlkampfveranstaltungen viele Leute auf Dorf- und Marktplätzen. In einer Gesellschaft, die immer individualistischer und flacher wird, kann jeder jeden Blödsinn verzapfen. Der Entertainment-Faktor ist wichtiger als der Informationsgehalt. Von den Hahnenkämpfen der Influencer um Likes und Follower sind sogar von mir geschätzte Spitzenökonomen nicht verschont. Jeder muss immer der Beste sein.