Direkt zum Inhalt
Clemens Steiner CEO Tiger Coatings
Clemens Steiner CEO Tiger Coatings
Wakolbinger

Wir sind der Ferrari in unserer Branche

25.11.2025 um 10:09, Klaus Schobesberger
min read
Nachgefragt. Clemens Steiner, ein ausgewiesener China-Kenner und seit mehr als 20 Jahren CEO von Tiger Coatings, über die KI-Hoffnung der Industrie.

CHEFINFO: Es ist viel davon zu hören, wie wichtig KI für die Zukunft unserer Indus­trie ist. Teilen Sie diese Erkenntnis?
Clemens Steiner: Ich bin kein KI-Experte, aber ich habe bereits vor vielen Jahren erkannt, wie bedeutend diese Technologie ist. Letzte Woche war ich auf dem IDG Summit in Stockholm – IDG steht für Inner Development Goals, eine Ini­tiative, die Menschen zu besseren Leadern entwickeln möchte. Der erste Tag war ein allgemeiner Track, am zweiten Tag konnte man spezielle Themen wählen. Ich habe mich für Leadership im Kontext von KI entschieden – und dort ist mir klar geworden, dass ich die Tragweite bisher unterschätzt hatte. Ich hatte immer gesagt, KI sei wahrscheinlich die größte Erfindung meiner Generation. Die Experten dort betonten jedoch: Sie ist die größte Errungenschaft in der gesamten Menschheitsgeschichte.

Ist das nicht übertrieben?
Steiner: Ich denke nicht. Alles, was wir in den letzten 5.000 Jahren an Geschichte zu kennen glauben, all das ist in schrift­licher Form mehr oder weniger in der KI enthalten. Sie kann es in unglaublicher Geschwindigkeit zu sinnvollen Inhalten verarbeiten und wiedergeben. Eine der faszinierendsten Erkenntnisse für mich war: KI kann uns helfen, uns als Menschen weiterzuentwickeln – etwa im Führungs-Coaching-Bereich. Die Entwicklung geht so schnell, dass wir heute leider sagen müssen: Wir in Europa haben die Large Language Models verschlafen, wir haben die Industrie 4.0 verschlafen – und nun sind wir aufgewacht und wollen den Turbo mit der industriellen KI zünden.

Sie besuchen regelmäßig Ihre drei Werke in China. Wie realistisch sind die Chancen, Boden gutzumachen?
Steiner: Wir sollten uns keinen ­Illusionen hingeben. Die Chinesen sind uns hier um ein Vielfaches voraus. Die Kalifornier setzen auf Spitzentechnologie, investieren enorm und haben erstklassige Ausbildungen. Doch in den vergangenen fünf Jahren haben die USA durch pure Qualität nicht erreicht, was die Chinesen durch schiere Quantität geschafft haben – Quantität an Codern, vor allem aber an Daten. Die chinesische Zentralregierung erklärt kurzerhand: Alle Daten ­gehören der Volks­republik China. In Europa hingegen haben wir den Data Act und Ähnliches – vergessen wir‘s, das ist reine Schlafmützigkeit. Die USA und China liegen in den vergangenen zwei Jahren Kopf an Kopf. Doch die Chinesen setzen sich über rechtliche Barrieren hinweg, wenn es ihrem Ziel dient, die globale Vormachtstellung zu erobern. Die entscheidenden Fragen sind: Werden wir es schaffen, KI sinnvoll einzusetzen? Werden wir genug Kontrollmechanismen haben, um die dunklen Kräfte im Zaum zu halten – oder überrollen sie uns?

China war lange die Werkbank, Forschung und Entwicklung passieren bei uns. Wie hat sich das verändert?
Steiner: Momentan haben wir mehr Leute in der Forschung in China als hier – um fair zu bleiben: Das ist eher das „E“ wie Entwicklung. Aber ich bin heilfroh darüber. Vor 20 Jahren waren F&E ausschließlich in Wels. Doch Forschung passiert dort, wo die Industrie und die Fertigung sind. Die Chinesen haben Produktionen, die tausendmal größer sind als unsere. Wir sprechen bei Tiger von Market Pull und Technology Push. 70  Prozent sind Market Pull – die Kunden bringen uns die Themen. Und diese Themen sind in ­China völlig andere als hier in ­Europa oder in Amerika. Die anderen 30  Prozent sind ­Technology Pushes. Das bedeutet: Wir haben eine spannende Technologie entwickelt und gehen damit aktiv auf unsere Kunden zu. Diese beiden Strategien sind unsere Hauptwege, um Kunden zu gewinnen und erfolgreiche Projekte zu initiieren. Deshalb haben wir R&D-Center in Chicago, in Österreich und in Shanghai.

Tiger Coatings ist ein Familien­betrieb, der vor 95  Jahren gegründet wurde und die Nummer sechs weltweit ist. Wie geht es Ihnen damit?
Steiner: Ich würde sagen: Familienbetrieb, family-owned – aber professionally managed. Dieser Zusatz ist entscheidend. Wir sind zwar „nur“ die Nummer sechs nach Umsatzgröße im Pulverlack-Bereich, doch kürzlich hatte ich einen sehr großen Marktbegleiter zu Gast: Die müssen doppelt so viel verkaufen, um denselben Umsatz zu erreichen. Wir sind der Ferrari der Branche – weil wir mehr Service bieten, mehr Wert schaffen, vor allem durch die Kombination mit dem Digitaldruck.

Sie sind seit 2003 CEO bei Tiger und verfolgen die Blue-Ocean-Strategie, die auf Differenzierung setzt. Wie hilft Ihnen denn die Digitalisierung dabei?
Steiner: Niemand ist in puncto Digitalisierung so weit voraus wie wir in der Branche. Es gibt weltweit keinen einzigen Farben-, Lack- oder Tintenhersteller, der derart hochauflösende, realistische Digitaldateien anbietet. Wir nennen es das Tigerverse – analog zum Meta­verse. Dort können Sie rund um die Uhr in unsere Library eintauchen: Mit einer einfachen Regis­trierung laden Sie die Dateien herunter. Jack Trout hat vor 30 Jahren den Spruch geprägt: „Differentiate or Die“ („Unterscheide Dich oder stirb“). Heute ist unser stärkster Hebel zur ­Differenzierung genau das, was die Blue-Ocean-­Strategie fordert: Wert für den 
Kunden schaffen, und für diesen Mehrwert dann auch einen Preis verlangen.

Früher machte man den Lack intelligent, heute sind es die Daten?
Steiner: Es geht nicht mehr darum, dem Lack beizubringen, sich selbst aufzutragen oder am Lebensende selbst zu entfernen – aus heutiger Sicht ist diese Technologie weitgehend ausgereizt. Stattdessen helfen wir Designern etwa bei Fahrradherstellern: Sie haben rund um die Uhr Zugang zu unserer Datenbank und können beispielsweise mit 15 Finishes auf drei Fahrrad-Designs experimentieren. Dann sagen sie: „Von diesen dreien möchte ich jetzt ein physisches Muster.“ So drehen wir das Ganze um – der Analog Twin entsteht aus dem Digital Master. Wir beschleunigen den gesamten Upstream-Kreativprozess enorm. Und genau das haben wir 2017 nie geahnt, als wir sagten: „Leute, digitalisiert!“

Henry Ford prägte den Spruch: „Jede Farbe ist willkommen, solange sie schwarz ist.“ Heute gilt Mass Customization und „Wie es euch gefällt“. Kommt Ihnen die neue Individualisierung entgegen?
Steiner: Pulverlack wird analog appliziert: Wir jagen die Partikel durch eine Luftpistole, sie haften elektrostatisch, und ich kann die Schichtstärke variieren. Ende der Fahnenstange. Digital ist dagegen so faszinierend, weil es keine Design-Limits gibt. Es geht aber auch um Digitalisierung, die in die Wertschöpfung einfließt. Die ­Firma Marcegaglia in Ravenna war ­früher ein reiner Stahlhersteller und verkaufte Coils. Irgendwann merkten sie: Inder und ­Chinesen können das zur Hälfte des Preises – entweder wir erfinden etwas Neues, oder wir sperren zu. So kamen sie auf den Digitaldruck. Antonio Marcegaglia ­sagte auf der Aktionärsversammlung: „Uns geht es nicht mehr darum, Tonnen von Stahl zu verkaufen, sondern Quadratmeter von Schönheit.“ Der Mailänder Dom wird ständig renoviert, doch die Stadt will, dass Touristen ihn unverändert erleben. Also wurde er abfotografiert, auf fünf Meter hohe Sandwichpaneele gedruckt – auf über 200  Meter Länge. Sie glauben, Sie schauen auf den echten Dom. Es ist Schallschutz und Sicherheit für die Arbeiten dahinter – ein digital bedrucktes Stahlband mit unserer Tinte. Inzwischen machen wir die U-Bahn in Rom und mehr.

Kann man bei Tiger Coatings von einem global tätigen Unternehmen reden?
Steiner: Ich würde lieber von einem multinationalen Unternehmen sprechen. Global wäre für mich die falsche Bezeichnung, da wir auf der südlichen Hemisphäre praktisch nicht präsent sind. Wir hatten ein Engagement in Südamerika, das sich jedoch nach 15  Jahren als nicht erfolgreich herausgestellt hat. Wir haben dort rund 15 Millionen Euro investiert und mussten uns schließlich wieder zurückziehen. Während der ersten Amtszeit von Präsident Lula lief es noch sehr gut – Brasilien befand sich in einer positiven Aufwärtsentwicklung. Dann kam jedoch der wirtschaftliche Abschwung ...

Was spricht bei Tiger noch für den Produktionsstandort Österreich?
Steiner: Ich glaube, wir hatten enormes Glück. Was wir produzieren, ist ein Industrieverbrauchsgut, das nicht weit transportiert werden kann. Man muss dort sein, wo die Kunden sind. Dieses „Local to Local“-Konzept, das heute durch geopolitische Veränderungen von vielen Unternehmen gefordert wird, haben wir quasi von Anfang an gelebt – allerdings völlig unbewusst. Die deutsche Exportindustrie, die traditionell als Weltmeister gilt – all diese hoch spezialisierten Maschinen, die in Schwaben oder anderswo in Deutschland gefertigt und dann weltweit exportiert werden  –, die steht heute vor großen Herausforderungen. Unsere heutige Aufstellung macht uns extrem krisenresistent, selbst gegenüber protektionistischen Maßnahmen wie Importzöllen. Es wird immer jemanden vor Ort geben, der sich ein Schiebetor für seinen Garten kauft und das pulverbeschichtet haben möchte. Oder jemanden, der sein Fahrrad in einer ganz bestimmten ­Farbe haben will. Der bestellt das bei seinem lokalen Pulverbeschichter und der sagt: „Das macht Tiger für mich.“ Und genau das – diese schnelle lokale Verfügbarkeit  – ist unser entscheidender Vorteil.

Tiger Management-Board Thomas Loibl, Mitgesellschafter Clemens Steiner und Reinhold Freiseisen. Vorn: Aufsichtsratsvorsitzende und Mitgesellschafterin ­ Elisabeth Berghofer sowie Mehrheitseigentümer Kurt Berghofer.

more