Kann Deutschland liefern?
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Ab heute regiert die Hoffnung“ titelte die „Bild“-Zeitung noch in der Morgenausgabe des 6. Mai. Nach 20 Jahren und sieben Monaten nach seinem Rücktritt als CDU/CSU-Fraktionsvize hätte Friedrich Merz am Vormittag als neuer Kanzler die Ernennungsurkunde von Frank-Walter Steinmeier entgegennehmen sollen. Um 15 Uhr wäre er mit seinem Kabinett für die Amtsübergabe angetreten. Noch am Abend war die erste Sitzung seiner Minister geplant, um die Abschaffung von mehr als zwei Dutzend Beauftragten-Posten zu beschließen. Aber dazu kam es bekanntlich nicht, weil Merz im Bundestag im ersten Anlauf nicht die erforderliche Mehrheit bekam. Jeder war davon überzeugt, dass diese Wahl – wie alle Wahlen des Bundeskanzlers davor in der Bundesrepublik – reibungslos über die Bühne gehen würde. „SchMERZ!“ lautete die „Bild“-Schlagzeile nach der Blamage, weil auch einige Koalitionäre diesem Kanzler die Gefolgschaft verweigert haben. Einem Kanzler, der selbst schon gesagt hat, dass er einen Kredit auf seine Vertrauenswürdigkeit aufgenommen hat. Dieses Misstrauen hat er nun schwarz auf weiß erhalten. Es ist eine Premiere in der Geschichte der Bundesrepublik und ein Fehlstart für den erst im zweiten Durchgang gewählten Kanzler, der Deutschland nach einer langen Phase der Selbstbeschäftigung während der Ampelkoalition wieder in Schwung bringen will. Dieses Ereignis ist jedenfalls für manche Beobachter kein gutes Omen für eine Koalition, die Deutschland grundlegend verändern will und bereits auf den allerersten Metern ins Straucheln geriet.
Warum Merz polarisiert
Dabei ist Merz der Mann, auf dem Europas Hoffnungen ruhen. „Die Welt wartet nicht auf uns, aber Europa wartet auf Deutschland“, sagte der CDU-Chef selbst. Die Erwartungen sind klar: Berlin soll liefern – nämlich Waffen, Geld und politische Führung, was den Krieg in der Ukraine betrifft. Für den europäischen Zusammenhalt will Merz die wichtige deutsch-französische Achse wiederbeleben. Nicht von ungefähr führt ihn seine erste Reise nach Paris zu Präsident Emmanuel Macron. Und schließlich will der ehemalige Manager des US-Finanzinvestors BlackRock sein Land wieder zum Motor für den europäischen Kontinent machen. Für die marode deutsche Infrastruktur steht ein Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro zur Verfügung, wovon auch Österreich profitieren kann. Ein starker und verlässlicher Partner will Deutschland sein, eine berechenbare und keine dysfunktionale Demokratie. Dass Verbindlichkeit und Berechenbarkeit offenbar nicht zu Merz‘ Qualitäten zählen, hat auch zu diesem Fehlstart geführt. Merz hat oft Dinge versprochen und das Gegenteil getan, womit er auch einige seiner Weggefährten verprellt hat. Enttäuschte in der SPD, aber auch in der CDU/CSU gibt es wegen der Lockerung der Schuldenbremse, der verschärften Migrationspolitik. Oder weil sie vom neuen Kanzler übergangen wurden und nicht auf der Ministerliste stehen. Bis auf Verteidigungsminister Boris Pistorius stehen hier fast nur neue Namen. Namen, die durchaus Potenzial haben.
Wirtschaftsministerin mit „Energie“
Als Glücksgriff könnte sich die neue Wirtschaftsministerin Katherina Reiche erweisen. Mit Energie und der Branche, die den Industriestandort am Laufen hält, beschäftigt sich die CDU-Politikerin und Spitzenmanagerin seit zehn Jahren. Die Chemikerin war Chefin des Stadtwerkeverbands VKU und Vorstandschefin des größten regionalen Energieversorgers in Deutschland, nämlich der E.On-Tochter Westenergie in Nordrhein-Westfalen. Die aus Brandenburg stammende Ministerin will sich von ihrem Vorgänger Robert Habeck deutlich abheben und Standortpolitik machen. Unternehmen und Verbraucher in Deutschland sollen dauerhaft um mindestens fünf Cent pro kWh mit einem Maßnahmenpaket entlastet werden – eine sehr konkrete Ansage aus dem Koalitionsvertrag. Um das zu erreichen, will die Regierung Stromsteuer und Netzentgelte senken. Der Netzausbau soll realistischer geplant und die Strompreiskompensation für Unternehmen, die besonders im internationalen Wettbewerb stehen, „dauerhaft verlängert und auf weitere Branchen ausgeweitet“ werden. Für sehr energieintensive Konzerne soll darüber hinaus ein Industriestrompreis eingeführt werden, der Planungssicherheit gibt. Ein Maßnahmenpaket, das vor allem der österreichischen Bundesregierung zu denken geben sollte. Die meisten EU-Staaten nutzen dieses Instrument. „Mit der Nichtnutzung der Strompreiskompensation wird der energieintensiven Industrie in Österreich und allen voran der voestalpine nachhaltiger Schaden im Wettbewerb zugefügt. Die Lage ist ernst“, sagt voestalpine CEO Herbert Eibensteiner.

Premiere: ein neues Digitalministerium
Eine neue Persönlichkeit mit Ministerwürden ist auch der Top-Manager Karsten Wildberger, der erster deutscher Digitalminister wird. Auch wenn es bereits kritische Stimmen gibt, dass der CEO der börsennotierten Ceconomy AG (u. a. MediaMarkt) keine Verwaltungserfahrung mitbringt, so ist Merz mit dieser Wahl doch ein Coup gelungen. Er soll als ein Mann aus der Wirtschaft Tempo und Pragmatismus in die Politik bringen. Wildberger steht vor der Herausforderung, ein neues Ministerium aufzubauen, Widerstände in der Verwaltung zu überwinden und die Interessen von Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Datenschutz in Einklang zu bringen. Digitalisierung und Staatsmodernisierung könnten zu einem Leitmotiv der neuen deutschen Regierung werden. Außerdem soll Wildberger den Breitbandausbau vorantreiben, eine zentrale Bürgerplattform installieren und das Zuständigkeitsdickicht des Föderalismus entwirren. Derzeit agiert die Bundesrepublik viel zu analog und behäbig. Bei diesem Thema ist Österreich viel weiter. „Deutschland braucht eine echte Staatsreform“ steht im Koalitionsvertrag. Der studierte Physiker könnte der richtige Mann für diese Mammutaufgabe sein.
