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Skyline London
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CHUNYIP WONG / E+ / Getty Images

London calling

12.05.2025 um 09:55, Michael Schwarz
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Die London Stock Exchange gilt als wichtigste Börse Europas. Wie gelangte der Finanzplatz an die Spitze und wie lockt man heute Investoren an?

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Es war Montag, der 27. Oktober 1986, um 8 Uhr morgens. Normalerweise schoben sich zu ­dieser Zeit Anzugträger durch die Threadneedle Street in London, um an der Börse Geschäfte abzuschließen. Doch an diesem Morgen war alles anders. Der Handelsraum, in dem jahrzehntelang lautstark Preise zugerufen und Deals per Handschlag besiegelt worden waren, wirkte gespenstisch still. Der Grund: London hatte als erste europäische Börse den Sprung vom manuellen Handel – genannt Open Outcry – in die elek­tronische Welt gewagt. Dafür entwickelte man basierend auf dem amerikanischen ­Nasdaq-System ein eigenes Programm namens „Stock Exchange Automated Quotation“ (Seaq). Es sollte zunächst das Handelsparkett ergänzen, bald aber ganz ersetzen. Doch die Einführung verlief nicht reibungslos. Bereits am ersten Tag strapazierten ungeduldige Händler das System, das schließlich abstürzte, über. Trotz dieser Startschwierigkeiten sicherte sich London mit diesem mutigen Schritt langfristig die Vormachtstellung in Europa. Stockholm folgte erst vier Jahre später mit dem Umstieg zum digitalen Börsenplatz, Frankfurt sogar erst im Jahr 1997.
 

The Big Bang

Aber nicht nur die Digitalisierung zementierte Londons Stellung als wichtigster Finanzplatz ­Europas. Teil der Neuausrichtung der ­Börse war eine Phalanx an De­regulierungsmaßnahmen. Margaret Thatcher war bereits seit sieben Jahren Premierministerin, als diese Entbürokratisierung – der „Big  Bang“ – passierte. Erstens wurde die ­feste Mindestprovision bei Geschäften abgeschafft. Zweitens entfiel die strikte Trennung zwischen Maklern, die auf Provisionsbasis für ihre Kunden handelten, und Jobbern, die die Märkte schufen. Zusätzlich durften Makler und Jobber nun Teil größerer Finanzgruppen werden. Besonders entscheidend für Nichtbriten war jedoch die Aufhebung der letzten Regel: Ausländer wurden nicht mehr von der Börse ausgeschlossen. Nach der globalen Finanzkrise von 2008 kritisierten sogar ehemalige Thatcher-Regierungsmitglieder ihre Reformen, und zahlreiche neue Regeln sollten verhindern, dass sich ein solcher Crash wiederholte. Dennoch ist unbestreitbar, dass der Big Bang ein Umfeld schuf, das London endgültig als führenden Finanzplatz etablierte.
 

Phil Noble / REUTERS
Dem Börsengang des Fast-Fashion-Händlers Shein stehen nach dem Go der britischen Finanzaufsichtsbehörde nur noch die chinesischen Behörden und US-Zölle im Weg.

Post-Brexit

Doch dann kam ein politisches Referendum, das die Karten neu mischen sollte. Im Sommer 2016 stimmten 51,89 Prozent der Briten für den EU-Austritt. Die Folge war, dass mehrere EU-Institutionen ihren Hauptsitz aus London abzogen – etwa die Europäische Bankenaufsichtsbehörde, die heute in Paris ansässig ist. Doch kam es wirklich zum vielfach angekündigten Exodus nach dem Brexit? „In den Jahren nach dem Brexit verlegten diverse Banken und Finanzdienstleister gewisse Teams an Standorte in Paris, Frankfurt und Mailand“, erklärt ­Michael Müller, WKO-Wirtschaftsdelegierter in London, „eine ursprünglich befürchtete massive Abwanderung hat es aber nicht gegeben.“ Das Herz der Metropole, die City of London, schlägt sogar stärker als zuvor: Über 500 ausländische Banken sowie zahlreiche Investment­firmen und spezialisierte Anwaltskanzleien sind dort weiterhin vertreten. Der älteste Verwaltungsbezirk Londons ging somit sogar gestärkt aus dem Brexit hervor. Die verlorenen Arbeitsplätze wurden längst mehr als ausgeglichen. Laut dem Fachmagazin „The Banker“ entstanden zwischen 2019 und 2022 in der City rund 6.000 neue Stellen. Dennoch wäre die Entwicklung ohne Brexit vielleicht noch positiver verlaufen. Rund 70 Prozent der City-Einwohner stimmten damals für den EU-Verbleib. Der ehemalige Bezirksbürgermeister Michael Mainelli sagte gegenüber der FAZ, dass sich die Hauptstadt bei einem EU-Verbleib vermutlich noch besser entwickelt hätte.
 

Michael Müller, WKO-Wirtschaftsdelegierter London
Michael Müller, WKO-Wirtschaftsdelegierter London

Flucht nach New York

Während der befürchtete Abzug nach dem Brexit grundsätzlich ausblieb, war das vergangene Jahr für die London Stock Exchange dennoch kein Erfolg. „Im Juni 2024 konnte London zwar gemessen am Handelsvolumen den Titel als größter europäischer Börsenplatz zurückerobern, die durch den Brexit induzierten Unsicherheiten haben aber die Börsen­gänge internationaler Firmen reduziert“, erzählt Müller. Laut EY fanden im gesamten letzten Jahr lediglich 18 Börsengänge statt, davon allein acht im vierten Quartal. Gleichzeitig verließen 2024 so viele Unternehmen die Londoner Börse wie seit 2009 nicht mehr: 88 Firmen verlagerten ihr Hauptlisting an andere Handelsplätze, wodurch eine Marktkapitalisierung von 283 Milliarden Pfund verloren ging. David Schwimmer, CEO der London Stock Exchange, bezeichnet die geringe Zahl neuer Listings als globales Problem. Dass ein Wechsel an die Wall Street automatisch Erfolg bedeutet, bezweifelt er jedoch deutlich: „Von den 20 Unternehmen, die London verlassen haben, um in New  York an die Börse zu gehen, handeln vier Unternehmen mit Kursgewinnen, neun wurden bereits wieder von der Börse genommen, und die übrigen verzeichnen im Durchschnitt Kursverluste von über 80 Prozent.“ Hoffnung für die angeschlagene Londoner Börse könnte jetzt ein umstrittener Börsengang bringen: Der chinesische Fast-Fashion-­Händler Shein erhielt von der britischen Finanzaufsichtsbehörde grünes Licht für einen ­Börsengang, dessen Bewertung laut Reuters rund 50  Milliar­den US-Dollar betragen soll.
 

Rachel Reeves, Schatzkanzlerin Vereinigtes Königreich
Rachel Reeves, Schatzkanzlerin Vereinigtes Königreich

Hürde Ärmelkanal

Während der chinesische Konzern in London andocken möchte, gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Europa derzeit eher schwierig. Seit dem 2. April 2025 erschweren neue Einreisebestimmungen spontane Trips nach London und zusätzlich belasten Zölle den Handel zwischen Großbritannien und der EU. Britische Banken dürfen darüber hinaus von London aus nicht mehr direkt in der EU tätig sein. „Um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, haben Banken, Investmentfonds, Vermögensverwalter und Wealth Manager daher Niederlassungen in der EU eröffnet“, erzählt Müller. Gleichzeitig ziehen sich europäische Banken zunehmend aus London zurück und verringern dort ihre Firmenkundenbetreuung. So schloss beispielsweise die Erste Group 2020 ihren bereits 1993 eröffneten Standort in London. Großbritannien versucht nun, den Brexit in einen Wettbewerbsvorteil zu verwandeln und setzt, ähnlich wie beim Big Bang 1986, erneut auf Deregulierung. Interessanterweise tritt dabei ausgerechnet eine Labour-Politikerin in Margaret Thatchers Fußstapfen. Bereits im November erklärte Schatzkanzlerin Rachel Reeves: „Großbritannien hat Regelungen vor allem zur Risiko­vermeidung eingeführt, nicht jedoch zur Wachstumsförderung.“ Den Plan, die nach der Finanzkrise eingeführten Regulierungen zurückzufahren, bekräftigte sie kürzlich erneut während eines Besuchs in Washington, wo Bürokratieabbau ohnehin en vogue ist.
 

Gewitterwolken über der London Stock Exchange? 2024 verließen so viele Unternehmen die Börse wie zuletzt 2009 nach der Finanzkrise.
Gewitterwolken über der London Stock Exchange? 2024 verließen so viele Unternehmen die Börse wie zuletzt 2009 nach der Finanzkrise.

Bombastische Banker-Boni

Eine Deregulierung, die bereits dieses Jahr wirksam wurde, ist das Ende des Boni-Deckels: Noch unter den Tories unter Rishi Sunak wurde die EU-Obergrenze für Bonus-Zahlungen, die ­Banker erhalten dürfen, aufgehoben. Diese durften sich erstmals Anfang des Jahres über fette Sonderzahlungen freuen. Die neue Labour-Regierung hat diese Entscheidung nicht nur mitgetragen, sondern sogar zusätzliche Lockerungen auf den Weg gebracht. Laut EU-Richtlinie dürfen Boni höchstens das Doppelte des Jahresgehalts betragen. In London hingegen kann das Bonuspaket bei Goldman Sachs seit diesem Jahr das 25-Fache des Grundgehalts erreichen. Auch britische Banken wie Barclays oder HSBC öffnen zumindest theoretisch die Tür für Prämien in Höhe des zehnfachen Grundgehalts. Die Aussicht auf solche Mega-Boni soll Top-Talente aus aller Welt – insbesondere aus Europa – in die britische Finanz­metropole locken. Dabei ist längst bekannt, dass diese Praxis riskante Geschäfte fördert und vorsichtige Entscheidungen eher bestraft – genau deshalb hatte die EU einst eine Obergrenze eingeführt.
 

Der Londoner Börse den Rücken gekehrt hat vergangenes Jahr der Lieferando-Mutterkonzern Just Eat Takeaway.com.
Der Londoner Börse den Rücken gekehrt hat vergangenes Jahr der Lieferando-Mutterkonzern Just Eat Takeaway.com.

EU: Wirtschaftspartner oder Regulierungsteufel?

Neben den Aufhebungen der EU-Regelungen ist seit diesem Jahr ein neues Abkommen zwischen der Schweiz und Großbritannien in Kraft. Es verschafft vor allem Schweizer Finanzdienstleistern einen erleichterten Zugang zu vermögenden Kunden im Vereinigten Königreich, während britische Versicherer umgekehrt leichter in der Schweiz agieren können. Beide Finanzzentren sollen so gestärkt werden – ein Schritt, der ohne den EU-Austritt wohl kaum möglich gewesen wäre. Dennoch setzte Keir Starmer, als er vergangenen Sommer Premierminister wurde, ein deutliches Signal: Er kündigte einen „Reset“ der Beziehungen zur EU an. Das kommt auch bei der Börse gut an, denn sie ist dringend auf internationales Kapital angewiesen. Dass das Vereinigte Königreich mit seiner EU-Politik auf einem schmalen Grat wandelt, ist auch britischen Führungskräften bewusst. Alastair King, seit November „Lord Mayor of the City of London“, erklärte gegenüber Reuters: „Wir wollen unsere eigenen Bereiche haben, in denen wir einen Wettbewerbsvorteil haben können, aber wir wollen auch weiterhin sehr gute Beziehungen mit der EU pflegen.“ Unterstützung könnte dabei ausgerechnet von Donald Trump kommen, dessen außenpolitische Linie alte Konflikte zu beruhigen scheint. Besonders im Ukrainekrieg sieht Starmer eine Möglichkeit, in Europa an Einfluss zu gewinnen. Gemeinsam mit Emmanuel Macron gilt er mittlerweile als Anführer einer „Koalition der Willigen“, die der Ukraine im Falle eines Friedensabkommens militärischen Schutz verspricht. Auch kanadische Investoren rücken ins Blickfeld – London hofft, dass sie Kapital von der Wall Street abziehen und sich wieder dem „Mutterland“ zuwenden. Eine mögliche ­Gegenbewegung zum Trend des Vorjahres. Dabei will ­Starmer Trump nicht ­provozieren – bislang mit Erfolg. Der US-­Präsident nannte ihn einen „besonderen Mann“. Doch man weiß, wie sprunghaft Trump sein kann. Vielleicht treibt das die aktuellen Wall-Street-Investoren in die Hände Starmers und damit zurück nach London. 

Premierminister Keir Starmer möchte UK wieder näher an die EU bringen. Der Ukraine-Konflikt vereint dabei.
Premierminister Keir Starmer möchte UK wieder näher an die EU bringen. Der Ukraine-Konflikt vereint dabei.

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