Friedrich Santner: Neuer SOS-Kinderdorf-Aufsichtsrat nennt Konzept veraltet
- Neuer Aufsichtsrat bei SOS-Kinderdorf
- Fast 1.000 Seiten voller Verdachtsmomente
- Vertuschung, interne Machtkämpfe, Rücktritte
- Verstrickungen an der Spitze
- Wer ist Friedrich Santner?
- Klartext in der „Zeit im Bild 2“
- Ziele und Reformschritte
Das SOS-Kinderdorf hat einen neuen Aufsichtsrat. Nach den Enthüllungen über Missbrauch und Machtversagen wählte die Organisation am Donnerstag Industriemanager Friedrich Santner zum Vorsitzenden.
Der 65-Jährige leitet die Anton Paar Group AG mit weltweit über 4.200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und gilt als erfahrener Manager mit internationaler Reputation. Und: Er wuchs selbst in einem SOS-Kinderdorf auf. Santner soll die tief erschütterte Organisation neu aufstellen und verlorenes Vertrauen zurückgewinnen.
Neuer Aufsichtsrat bei SOS-Kinderdorf
Der neue Aufsichtsrat versteht sich laut Aussendung als „unabhängiges, aktives Kontrollgremium mit klarer Verantwortung für Aufsicht, Kinderschutz, Governance und Compliance“. Ziel sei, die lückenlose Aufarbeitung der Vergangenheit zu sichern.
Fast 1.000 Seiten voller Verdachtsmomente
Auslöser für die Neuordnung war ein Bericht der Independent Special Commission (ISC), der auf knapp 991 Seiten detailliert dokumentiert, wie es über Jahrzehnte zu Missbrauch, Gewalt und strukturellem Versagen kommen konnte. Das vertrauliche Dokument liegt seit Mitte November der Staatsanwaltschaft Wien vor und nennt laut SOS-Kinderdorf International auch Hinweisgeberinnen, Mitarbeiter und Verantwortliche namentlich.
Untersucht werden mögliche Pflichtverletzungen innerhalb der Organisation, mangelnde Meldung von Vorfällen an Behörden sowie der Umgang mit Spenden und internen Disziplinarmaßnahmen. Bereits 2023 war eine gekürzte 262-seitige Fassung öffentlich zugänglich, blieb jedoch weitgehend unbeachtet.
Vertuschung, interne Machtkämpfe, Rücktritte
Dem alten Aufsichtsrat wird vorgeworfen, Hinweise auf Missstände in den Kinderdörfern Moosburg (Kärnten) und Imst (Tirol) nicht weitergegeben zu haben. Interne Untersuchungen seien zum Teil zurückgehalten worden. Zwischen dem Kontrollgremium und der Geschäftsführung kam es zu erheblichen Spannungen.
Erst vor wenigen Wochen hat der Dachverband SOS-Kinderdorf International mit Sitz in Wien dem österreichischen Ableger zeitweise die Mitgliedsrechte entzogen.
Verstrickungen an der Spitze
Im Mittelpunkt der Ermittlungen stehen auch zwei zentrale Figuren aus der Geschichte der Organisation. Der langjährige Präsident Helmut Kutin, der 2024 verstarb, soll einem wohlhabenden Großspender den Zugang zu Kindern in einem SOS-Kinderdorf in Nepal ermöglicht haben, obwohl es bereits Hinweise auf Übergriffe gegeben haben soll. Die Staatsanwaltschaft München leitete zwischenzeitlich ein Verfahren wegen Anfangsverdachts ein, stellte dieses jedoch nach Kutins Tod ein.
Auch gegen den Gründer Hermann Gmeiner richten sich nach Angaben des Untersuchungsberichts schwerwiegende Vorwürfe. Mehrere Betroffene berichten von sexuellen Übergriffen in den Anfangsjahren der Organisation. Die Leitung von SOS-Kinderdorf hat angekündigt, auch diese historischen Fälle unabhängig prüfen zu lassen.
Der Bericht der Independent Special Commission nennt darüber hinaus Hinweise auf mögliche Geldwäsche und Menschenhandel, die in einzelnen internationalen Projekten untersucht werden. Mehrere Staatsanwaltschaften – darunter jene in Klagenfurt, Innsbruck und Salzburg – führen derzeit Ermittlungen.
Parallel hat die Organisation eine Reformkommission unter Leitung der früheren OGH-Präsidentin Irmgard Griss eingesetzt, die unabhängige Empfehlungen für Strukturen und Aufsicht erarbeitet.
Wer ist Friedrich Santner?
Santner wurde 1960 in der Steiermark geboren und kam im Säuglingsalter in ein SOS-Kinderdorf. Er studierte Psychologie und Pädagogik, promovierte und stieg anschließend in die Wirtschaft ein. Nach leitenden Funktionen bei der Styria Media Group übernahm er den Vorstand des Grazer Messtechnikkonzerns Anton Paar Group. Santner sitzt außerdem im Aufsichtsrat der Erste Group und ist Vorsitzender der Steiermärkischen Sparkasse.
Der Steirer gilt als analytischer, teamorientierter Manager mit klarem Führungsstil. Sein Werdegang – vom ehemaligen Heimkind zum Spitzenmanager – macht ihn zur prädestinierten Gallionsfigur des Neustarts.
Klartext in der „Zeit im Bild 2“
Am Abend seiner Bestellung war Santner Gast bei Martin Thür in der „ZIB 2“. Dort zeigt sich der Manager zugleich entschlossen und selbstkritisch. „SOS-Kinderdorf ist auf alle Fälle noch rettbar", ist er überzeugt. "Ein allererstes Augenmerk gilt den rund 1.800 Kindern, die derzeit von circa 2.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreut werden.“
In seiner Jugend habe er selbst Gewalt miterlebt, räumt er ein, stellt diese aber in den gesellschaftlichen Kontext der damaligen Zeit. „Es hat natürlich Gewalt gegeben. Ich habe sie gesehen. Aber das war kein Einzelfall nur im Kinderdorf.“ Die Vergangenheit könne man nicht besser machen. Jetzt sei es wichtig, aufzuklären, was damals passiert ist.
Neben der Aufarbeitung könnte den SOS-Kinderdörfern auch eine größere Reform ins Haus stehen. „Die Idee des SOS-Kinderdorf ist ein wenig aus der Zeit gefallen", lässt Santner aufhorchen. "Heute muss es um ein liebevolles, aber professionelles Zuhause für jedes Kind gehen.“
Ziele und Reformschritte
Für die Aufklärung arbeitet der neue Aufsichtsrat eng mit der Reformkommission von Irmgard Griss zusammen. Geprüft werden künftig Meldepflichten, Kinderschutzrichtlinien und interne Kontrollmechanismen.
Santner will alle relevanten Passagen des ISC-Berichts juristisch prüfen lassen und den zuständigen Staatsanwaltschaften übergeben. Über die Zukunft der drei Geschäftsführerinnen Annemarie Schlack, Nora Deinhammer und Carolin Porcham äußerte er sich zurückhaltend: „Das wäre jetzt ein Schnellschuss.“ Dennoch betonte er „null Toleranz für neue Fehler“.
Im Zentrum stehe die Versorgung der Kinder: „Wir müssen dafür sorgen, dass die heute betreuten Kinder in Sicherheit und Vertrauen leben können.“