Radikalisierung: TikTok – eine tickende Gefahr
- Du kriegst, was du siehst
- TikTok ist die Einstiegsdroge
- „Rattenfänger“: Gefahr steigt
- Warnsignale erkennen
- TikTok-Guide für Eltern
- Interview: „Es gibt kein eindeutiges Profil“
Fitnesstipps, Food-Trends, lustige Tiervideos. Auf den ersten Blick wirken die Clips völlig harmlos, die im TikTok-Feed von Jugendlichen aufploppen. Viele Eltern halten die Plattform für reine Unterhaltung und wissen nicht, dass sich dort auch Rechtsextreme und salafistische Influencer-Prediger herumtreiben. Wir klären über das Lieblingstool der Generation Z und Alpha auf – und darüber, was im schlimmsten Fall dort passieren kann.
Du kriegst, was du siehst
Wie alle Social-Media-Plattformen arbeitet auch TikTok mit einem Algorithmus, der auf dem Verhalten der User basiert. Sieht man sich bestimmte Videos an, lernt der Algorithmus und schlägt ähnliche Inhalte vor. Ausschlaggebend dabei ist die Dauer der Videokonsumation. „Es ist aber nicht so, dass man etwas sieht und einfach hineinkippt. Am Beginn steht die Entscheidung, diese Inhalte zu suchen“, erläutert Kommunikationswissenschaftler Matthias Karmasin. Auch Terrorexperte Nicolas Stockhammer betont, TikTok als Radikalisierungsmaschine zu bezeichnen sei übertrieben. Allerdings sei das Angebot an extremistischen Inhalten groß – in einer Sprache, die die Jugend versteht: schnell, kompakt, mit Musik, modernen Layouts und Memes aufgewertet.
TikTok ist die Einstiegsdroge
Bilder und Videos orientieren sich an Fragen ihrer jungen Zielgruppe, etwa: „Darf ich laut Islam eine Shisha rauchen?“ Erkennt der Algorithmus ein Interesse, spült TikTok in kürzester Zeit radikalere Inhalte in den Feed, bis man in einer Bubble mit einschlägigen Themen gefangen ist, im Fachjargon Rabbit Hole genannt. Aus Interesse wird Faszination, aus Faszination mitunter ein extremes Weltbild. „TikTok ist quasi die Einstiegsdroge“, informiert Stockhammer. „Geht es ans Eingemachte, verlagert sich die Kommunikation in geschlossene Netzwerke wie Telegram und Signal.“ Erst dort findet eine direkte Interaktion statt.
Natürlich könnte man TikTo verbieten, wenn sie sich nicht an Auflagen und Regeln halten. Ich glaube aber, dass die Verfasser extremistischer Inhalte auf andere Plattformen ausweichen werden.
„Rattenfänger“: Gefahr steigt
Das Ziel radikaler „Rattenfänger“ ist es, Personen aus ihrem Umfeld zu isolieren und zu manipulieren. Wie schnell das gehen kann, zeigt der aktuelle Fall des Villacher Attentäters: Er soll sich innerhalb von nur drei Monaten via TikTok radikalisiert haben. Auch die Zahlen der Beratungsstelle Extremismus sind alarmierend: 2024 meldeten sich 720 Personen aus dem Umfeld möglicher Betroffener. „Am häufigsten geht es um die Sorge in Bezug auf islamistische Radikalisierung und Rechtsextremismus“, so Leiterin Verena Fabris.
Warnsignale erkennen
Was aber sind tatsächliche Warnsignale? „Das ist hochgradig komplex. Häufig kommt es zur Selbstisolation, Lebens- und insbesondere die Freizeit- und Essgewohnheiten werden dramatisch verändert“, so Stockhammer. Das geht sogar so weit, dass der ehemalige Wiener Jihadist Oliver N. seinen geliebten Hund weggab, weil das Tier angeblich als „unrein“ gilt. Anfällig sind laut Experten vor allem Menschen, die einfache Antworten auf komplexe Fragen suchen, unter Minderwertigkeitsgefühlen oder Gruppendruck leiden. Stockhammer: „Viele radikalisieren sich auch aus Langeweile, das darf man nicht unterschätzen.“ Und genau hier schließt sich der Kreis: Warum wohl nutzen die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen TikTok derart häufig? Aus Langweile!
TikTok-Guide für Eltern
- Anmeldung: Für die Nutzung ist ein Mindestalter von 13 Jahren vorgegeben. Bei der Profilerstellung ist aber kein Altersnachweis nötig, kann daher leicht umgangen werden.
- Begleiter Modus: Über den „Begleiter Modus“ können sich Eltern mit dem Profil des Kindes verbinden und die Nutzungszeit beschränken. Welche Inhalte angeschaut und welche Nachrichten verschickt werden, sehen sie allerdings nicht.
- Profileinstellungen: Stellen Sie den Account auf „Privat“. So sind Inhalte nur für ausgewählte Nutzer sichtbar und die Kontaktaufnahme Fremder lässt sich leichter vermeiden.
- Gemeinsam entdecken: Probieren Sie die App selbst aus und erkunden Sie TikTok gemeinsam mit dem Kind.
- Regeln statt Verbot: Legen Sie gemeinsam mit Ihrem Kind fest, welche Art von Videos in Ordnung ist und welche nicht.
Interview: „Es gibt kein eindeutiges Profil“
Verena Fabris, Leiterin Beratungsstelle Extremismus
Welche Fälle von Extremismus werden aktuell am häufigsten geschildert?
Überwiegend geht es um die Sorge in Bezug auf islamistische Radikalisierung und Rechtsextremismus. Manche Fälle betreffen Ultranationalismus, wie zum Beispiel die rechtsextreme Gruppierung der „Grauen Wölfe“, Staatsverweigerer oder christlichen Fundamentalismus. Oft spielt Gewalt eine Rolle. Seit Corona bemerken wir zudem einen Anstieg von Antisemitismus. In Zeiten der Verunsicherung kann eine extremistische Ideologie jungen Menschen Orientierung und Halt geben.
Gibt es Ihrer Erfahrung nach ein klassisches Opferbild? Wer ist besonders gefährdet?
Es gibt weder eine extremistische Persönlichkeit noch ein eindeutiges Profil. Allerdings sind Menschen vulnerabler, die Ausgrenzungserfahrungen gemacht haben, die kein stabiles soziales Umfeld haben, die wenig Selbstwirksamkeit erfahren und keine Perspektiven im Leben haben.
Wie geht man als Angehöriger damit um, wenn jemand im Umfeld sich extremistischen Gruppen anschließt?
Wir unterstützen dabei, die Beziehung zu der betroffenen Person aufrechtzuerhalten und zu stärken. Gemeinsam analysieren wir die Situation: Was findet er oder sie in der extremistischen Gruppe oder in der Ideologie? Warum macht es für die Person subjektiv Sinn, dort dabei zu sein? Welche Alternativen können wir aufzeigen? Gemeinsam arbeiten wir daran, Vertrauen zu schaffen und alternative Perspektiven zu eröffnen. Unsere Beratung ist vertraulich und auch anonym möglich. Wenn es um Selbst- und Fremdgefährdung geht, müssen wir allerdings mitunter auch die Sicherheitsbehörden involvieren.