In Zeiten wie diesen ...
Inhalt
- Weshalb grassiert die Angst, obwohl es uns relativ gut geht?
- Leiden wir also gar nicht wirklich, sondern haben „nur“ Angst vor dem Leid?
- Warum machen wir‘s dann nicht einfach wie Sisyphos?
- Warum reden wir so gern vom Untergang, anstatt ihn nach Möglichkeit zu verdrängen?
- Was können wir jetzt also tun?
Die Wasserkaraffe auf Franz Schuhs Couchtisch ist zu zwei Drittel leer. Und da kommen auch noch wir und wollen wissen, wie man optimistisch ins neue Jahr blicken könne!? Besuch beim Philosophen.
Weshalb grassiert die Angst, obwohl es uns relativ gut geht?
„Eine Erklärung ist, dass es vielen von uns gut geht und sie Angst haben, weil es ihnen gut geht – und sie ihre Wohlfahrt in einer Talfahrt zu verlieren fürchten“, sagt Franz Schuh. Aber warum ganz konkret und sogar im Weltmaßstab? „Falls die USA sich aus Europa nicht nur zurückziehen, sondern zugleich das europäische Erbe der Liberalität bekämpfen, bedeutet das, dass Europa einem Russland gegenübersteht, das eine andere Weltordnung will und sie durch die Militarisierung seiner Gesellschaft auch erreichen kann. Putin sagt: ,Wir wollen keinen bewaffneten Konflikt, aber wenn die Europäer einen Krieg führen wollen – wir sind bereit.‘ Die Amerikaner wiederum begreifen, dass die Europäer sicherheitspolitisch lange von ihnen gelebt haben. Was die Trumpisten dabei ausblenden: wie die Amerikaner im Kalten Krieg davon profitierten, die Weltpolizei zu sein. Es ist ein Fehler, sich nur auf Trump zu konzentrieren. Er ist ein professioneller Aufmerksamkeitserreger. Seine Performance verhindert, dass wir die Strukturveränderungen rational und ohne den Schleier der Empörung betrachten.“
Leiden wir also gar nicht wirklich, sondern haben „nur“ Angst vor dem Leid?
„Das gibt es: keine Depression, sondern Angst vor deren Ausbruch“, sagt Franz Schuh. „Bisher haben wir sehr schwierige Verhältnisse hauptsächlich als Zuschauer erlebt. Jetzt rücken sie heran, und das befördert Angst; und mit Angst ist es sehr schwierig, sich so gut ,wie früher‘ zu fühlen. Eine Kompensation wäre dann die sogenannte Angstlust, die ja tatsächlich existiert, weil Angst auch eine Art ist, sehr intensiv am Leben zu sein. Wer durchschnittlich vor sich hinlebt, stumpft ab – und dann fehlt ihm etwas: nämlich Intensität, nach der giert man. Man vibriert im Dasein wie Sisyphos, der seinen Felsen immer wieder runterwälzt. ,Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen‘, sagt Albert Camus.“
Warum machen wir‘s dann nicht einfach wie Sisyphos?
„Sisyphos“, sagt Franz Schuh, „erträgt und feiert seine Menschlichkeit dadurch, dass ihn der Stein nicht zerstört, sondern dass er, der Mensch, seine Freiheit darin sieht, ihn raufzuschleppen und runterrollen zu lassen: Er tut was! Er gewinnt sich selbst dabei, und auch in der Wiederholung kann der Mensch das Glück empfinden: Ich bin es, der den Stein hinaufträgt und hinunterrollen sieht. Sisyphos ist aber eine Metapher, die zu wenig berücksichtigt, was es heißt, nicht wie Camus ein Nobelpreisträger für Literatur zu werden, sondern irgendwer zu sein, der in der Masse versuchen muss, seinen Stein, seine Steine ein bisserl zu verschieben. Ich fürchte, einen ganz normalen Hackler wird das hochgemut Menschliche wenig motivieren.“
Warum reden wir so gern vom Untergang, anstatt ihn nach Möglichkeit zu verdrängen?
„Der Philosoph Thomas Macho hat es mir erklärt: ,Die Attraktivität des Untergangs kommt davon, dass er als Gemeinschaftserlebnis fungiert‘ “, sagt Franz Schuh. „Das Interesse am Untergang hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass unsere Gesellschaften stark individualisiert sind. Und in dieser Individualisierung, deren dunkle Seite die Einsamkeit ist, dürsten viele nach Gemeinschaft. Würde man eine gefährliche Situation schönreden, wäre das aber noch schädlicher, als den Untergang genüsslich zu prophezeien. Der Untergang ist derzeit eine illusionäre Vorstellung, und, ja, es zählt nicht immer, was wir wirklich leiden, sondern auch, was wir uns als Leid vorstellen: Das könnte man Konstruktivismus nennen, ein aus Angst konstruiertes Leid.“
Was können wir jetzt also tun?
„Sich kultiviert rückbinden an die Lebenskraft: Es gibt einen biologischen Überlebenstrieb – so wie es Freuds Todestrieb gibt“, sagt Franz Schuh. „Ich hatte die Idee, dass die Wirtschaftskammer vom Todestrieb befallen war. Die will sich selbst vernichten, solange es ihr noch gut geht und sie genug Kraft dazu hat. Man kann sich aber auch auf das Überleben und die Daseinsintensitäten konzentrieren – jenseits der Moral stehen die Menschen schnell vor der nackten Macht. Nicht zuletzt sollte man die ansteckende Vitalität einzelner Personen fördern. Das gilt für Lehrer, für Politiker, für Wirtschaftstreibende. Aber man darf dabei die Depressiven nicht ins Eck stellen. Denn auch sie verkörpern ein Stück der Wahrheit.“
Die Wasserkaraffe am Couchtisch von Franz Schuh ist zu einem Drittel voll. Noch immer. Und immerhin. Auch das ist ein Stück der Wahrheit.