Le Corbusier - der lange Schatten der Betonmonster
Inhalt
Sommer 1953. Es ist ein wunderschöner Tag an der Côte d’Azur nahe dem pittoresken Städtchen Roquebrune-Cap-Martin. Ein Mann Mitte 60 sitzt in einem winzigen Holzhaus, das er liebevoll auf den Namen „Le Cabanon“ – auf Deutsch „Die Hütte“ – getauft hat. Gerade einmal fünfzehn Quadratmeter ist die Wohnzelle groß. Raumsparende Möbel säumen die Wände, das WC ist nur durch einen Vorhang vom Wohnbereich abgetrennt. Der Mann sitzt vornübergebeugt an einem Tisch und zeichnet an einem Gebäudeplan. Hier in dieser idyllischen Holzhütte entwirft der schweizerisch-französische Architekt Bauwerke von gigantischem Ausmaß aus unverputztem Stahlbeton. Es ist der Erfinder des Brutalismus. Bekannt unter dem selbst gewählten Pseudonym „Le Corbusier“.
Utopist und Opportunist
Le Corbusier, mit bürgerlichem Namen Charles-Édouard Jeanneret-Gris, wird 1887 im schweizerischen La Chaux-de-
Fonds geboren. Seine Schweizer Herkunft wird Le Corbusier später gegen den französischen Pass eintauschen. Im Alter von 30 Jahren zieht der anfängliche Architektur-Autodidakt nach Paris, wo er fortan unter seinem Künstlernamen als wegweisender Architekt arbeiten wird. In den 1920er Jahren entwickelt Le Corbusier seine eigene moderne Formensprache und setzt diese in der ikonischen Villa Savoye bei Paris um. In seinen Schriften tritt Le Corbusier für funktionales, techniknahes Bauen ein. Bis heute hadert die Geschichtswissenschaft mit Le Corbusiers Nähe zum Faschismus und Vichy-Regime. Manche Historiker werfen ihm eine opportunistische Haltung gegenüber totalitären Ideologien vor, um seine eigenen Städtebau-Utopien umsetzen zu können. Während des Krieges konnte Le Corbusier aber ohnehin kaum architektonisch tätig werden, dazu fehlten schlichtweg die Mittel. In den 1940er und 1950er Jahren realisierte er mit der Unité d’habitation, die umgangssprachlich „Wohnmaschine“ genannt wird, ein neues Wohnkonzept, das auf kollektives Leben in modularer Architektur setzt. Ein Höhepunkt seiner städtebaulichen Arbeit war der Auftrag, die indische Planstadt Chandigarh zu entwerfen – ein visionäres Projekt, bei dem er seine Ideen von Raum, Struktur und Gesellschaft im urbanen Maßstab umsetzen konnte. Le Corbusier stirbt 1965 bei einem Badegang im Mittelmeer nahe seinem kleinen Ferienhäuschen Le Cabanon. Über 70 Gebäude auf der ganzen Welt entspringen seiner Ideenwelt, 17 sind heute Unesco-Weltkulturerbe.

Komplexes Erbe
Schon seit ihrer Studienzeit setzt sich Anna Minta mit Le Corbusier auseinander. Ihre Magisterarbeit verfasste sie zur Rezeption seiner Architekturideen bei jüdischen Einwanderern in Palästina.
„Ich habe mich schon immer mit Le Corbusier beschäftigt, aber mich auch mit ihm gerieben“, erzählt sie, „weil nicht alles, was er gesagt, geschrieben, gedacht und gebaut hat, immer dem Anspruch auf eine positive Entwicklung gerecht wurde.“ Heute ist Anna Minta Professorin für Geschichte und Theorie der Architektur an der Katholischen Privat-Universität Linz. Sie unterscheidet den Architekten vom Städteplaner Le Corbusier. In der Architektur spielt er laut Minta auch heute noch eine große Rolle. Er zeichnet sich durch die Zuspitzung zeitgenössischer Positionen und seine Ablehnung des Historismus und des Ornaments aus und veränderte die Architektur damit nachhaltig. „Er war progressiv, innovativ und damit prägte er die Architektur bis heute.“ Manche seiner Ansätze klingen so, als ob Le Corbusier als Zeitreisender aus dem 21. Jahrhundert kommen würde. So plädierte er für Dachgärten und gegen Bodenversiegelung und war seinen Zeitgenossen damit weit voraus. Hingegen stark an Bedeutung eingebüßt hat Le Corbusier in der Städteplanung, so Minta. Das Stadtbild von Le Corbusier war funktional gegliedert. Arbeitsquartiere und Schlafstätten konnten klar voneinander abgegrenzt werden. Mit riesigen Verkehrsschneisen hätte er Großstädte wie Paris vernarbt. Für Algier sahen seine Pläne die Überbauung der Altstadt mit einer gewaltigen Wohn- und Geschäftsstraße vor. Diese radikalen, oftmals automobilzentrierten Visionen sind heute überholt.

Missverständnis Brutalismus
Brutalismus klingt im Deutschen derb, fast abstoßend, hat aber mit Brutalität als solches wenig zu tun. Stattdessen leitet sich der Terminus vom französischen „béton brut“ ab, was so viel wie „roher Beton“ bedeutet. Von den Architekten der 1960er und 1970er Jahre gefeiert und kopiert, hinterlässt dieser Baustil heute bei vielen einen negativen Beigeschmack. Grobe Platten aus Sichtbeton, die langsam vor sich hin bröckeln und deren Außenfassaden von Algen als Biotop missbraucht werden. Denn Beton ist ein anspruchsvoller Baustoff und benötigt regelmäßige Pflege. „Und diese Pflege ist vielerorts 60 Jahre lang nicht erfolgt“, erklärt Minta, warum Brutalismus solch ablehnende Reaktionen hervorruft. Hinzu kommt, dass der Stil oft sogar von jenen missverstanden wurde, die die Bauten selbst entwarfen. „Viele haben einen Betonklotz hingestellt und meinten, sie würden brutalistische Architektur-Ästhetik bedienen.“ Bei Le Corbusiers Bauten verhält es sich jedoch ganz anders. Nicht nur, dass diese Ikonen der Architektur gut gepflegt sind, sie weisen eine andere Qualität des Konzepts auf. So lösten beispielsweise seine sakralen Bauten wie Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp auch bei Skeptikern Begeisterung aus. Dass allein der „béton brut“ an dem zweifelhaften Ruf des Baustils schuld sei, lässt Minta nicht durchgehen. „Alle bejubeln japanische Betonbauten. Sie verfolgen aber auch ein anderes ästhetisches Konzept und pflegen ihre Gebäude gut.“
Viele haben einen Betonklotz hingestellt und meinten, sie würden brutalistische Architektur-Ästhetik bedienen.

Das Ende des Mythos
Eine umfassende Werkschau von Le Corbusier ist derzeit im Zentrum Paul Klee in Bern zu sehen. Sie zeugt von dem Facettenreichtum des Künstlers, der auch puristische Gemälde malte und Skulpturen entwarf. Jedoch beschäftigt sich die Ausstellung auch mit seiner Anbiederung an Mussolini, seiner Rolle im Vichy-Regime und seinen antisemitischen Äußerungen in privaten Briefen. Sie wirft damit ein unangenehmes Schlaglicht auf jenen Mann, der bis vor wenigen Jahren noch stolz den 10-Franken-Schein zierte. Trotz des differenzierten Porträts gibt es auch kritische Stimmen dazu. Die Filmregisseurin Beatrice Minger bemängelt, dass eine wenig glanzvolle Episode aus dem Leben des ersten Brutalisten ausgespart wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg „verzierte“ er das Haus der Designerin Eileen Gray an der französischen Riviera mit großformatigen Fresken. Gray empfand die Aktion an dem von ihr entworfenen Gebäude als Vandalismus. Ihrem Wunsch, die Bilder zu entfernen, kam Le Corbusier nie nach. Stattdessen ließ er Zeitgenossen sogar in dem Glauben, das Haus selbst erbaut zu haben. Le Corbusiers Leben irritiert, während sein Werk inspiriert. Und so hinterlässt uns der Schöpfer des Brutalismus nicht nur beeindruckende Bauwerke, sondern auch einen anhaltenden gesellschaftlichen Diskurs.
