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Digital Health
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ipopba / iStock / Getty Images Plus

Avatar statt Primar

30.09.2025 um 11:01, Jürgen Philipp
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Werden wir bald Krebs und Übergewicht besiegt haben? Werden wir uns unsere Kinder künftig schon im Embryonalstadium aussuchen? Werden wir ewig leben?

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Die weibliche Brust löste schon so manchen Skandal  aus. Nein, nicht jene von Hedy Lamarr, der ersten nackten Frau im Kino, sondern jene der Kundinnen des französischen Unternehmens „Poly Implant Prothèse (PIP)“. Der damals drittgrößte Hersteller von Silikon-Brustimplantaten der Welt verwendete 2011 absichtlich billiges Industriesilikon, um den Profit zu steigern. Der Skandal hatte weitreichende Folgen, etwa die Einführung der MDR (Medical Device Regulation) seitens der EU. Vier Klassen (I, IIa, IIb und III) stehen für das Risiko. In Klasse  I finden sich OP-Tücher oder Pinzetten, in Klasse III etwa Herzkatheter, künstliche Gelenke oder Koronarstents. Ab Klasse IIa muss man sich zertifizieren lassen, ein langwieriges und kostspieliges Verfahren. Das scheint für oftmals invasive „Hardware“, wie Brustimplantate, Kniegelenke oder Skalpelle, mehr als logisch, doch was hat das mit Software zu tun? Eine Menge, denn ­viele digitale Gesundheitstools sind Medizin­produkte. Trotz strenger und zäher Zulassungen schießt die Branche in schier unendliche Höhen. Ist ­Digital Health die Wunderpille, die ­kranke Gesundheitssysteme heilen könnte? Systeme, die mit Fachkräftemangel und steigenden Kosten auf der einen Seite und immer höher werdender Lebenserwartung auf der anderen zu kämpfen haben …?

 

Dort, wo das Ultraschallgerät erfunden wurde, ist heute noch einer der globalen Hotspots für Forschung, Entwicklung und Produktion beheimatet: bei GE HealthCare in Zipf.

Jährliches Wachstum: 21,2  %

Doch was ist Digital Health eigentlich? Es ist ein Teil der Life-Science-Branche und dreht sich um digitale Technologien, welche die Gesundheitsversorgung, Prävention, Diagnose, Behandlung und Überwachung von Krankheiten verbessern. Das beginnt bei der Telemedizin, geht über manche Gesundheits-Apps bis zur Robotik in der Pflege oder zum Einsatz von KI in der Medizin. Ein weiterer großer Sektor umfasst die elektro­nischen Gesundheitsakten. Das alles sind großteils Medizinprodukte. Und der Weltmarkt scheint nach „oben hin offen“ zu sein: 2010 betrug das Volumen noch überschaubare 76 Mrd. US-Dollar, 2024 waren es immerhin schon 312,9   Mrd. US-Dollar. Bis 2034 soll er auf gigantische 2,19 Bio. US-Dollar wachsen. Global Market Insights rechnet von 2025 bis 2034 mit jährlichen Wachstumsraten von 21,2  Prozent per anno. Die Transformation der Gesundheitsbranche ist eben in vollem Gang. 
 

Tele„faxen“: ÖGK vs. ÖÄK

Digital Health ist damit der größte Profiteur der Covid-19-Pandemie, die etwa das Feld für Telemedizin bereitete. Gab es 2019 in Deutschland nur 3.000 digitale Sprechstunden, so waren es 2020 bereits 2,7 Millionen. Telemedizin soll das System schneller, effizienter und günstiger machen. Dazu könnten Engpässe bei niedergelassenen Ärzten, vor allem am Land, behoben werden, verspricht sich auch die ÖGK. Rund zehn Millionen Arztkontakte pro Monat gäbe es laut Gesundheitskasse. Eine Tele­medizin-Offensive will laut ÖGK „einfachen, sicheren und raschen Zugang zu medizinischer Erstberatung“ über Videotelefonie ermöglichen. Vor allem Personen mit leichten Beschwerden, „bei denen eine erste ärztliche Einschätzung ohne physischen Kontakt möglich und sinnvoll ist“, sollen so von den übervollen Praxen ferngehalten werden. Das gefällt natürlich nicht allen, wie etwa der Ärztekammer (ÖÄK). Diese klagte und das Bundesverwaltungsgericht kippte daraufhin aus formalen Gründen die Ausschreibung der ÖGK. Der Plan der ÖGK, Telemedizin mit privaten Anbietern und eigenen Ambulatorien umzusetzen, scheitert vorerst. Edgar Wutscher, Vizepräsident der ÖÄK und Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte, meint, es brauche „keine neuen Parallelstrukturen. Wie bei den anstehenden Gesprächen über den Gesamtvertrag ist auch hier unsere Hand für seriöse Verhandlungen ausgestreckt und wir arbeiten sehr gerne an einer Lösung mit“. Dieser Gesamtvertrag soll im Herbst verhandelt werden.
 

Medizintechnik-Cluster (MTC)-­Managerin Frauke Wurmböck fordert internationale Kooperationen, um im Feld mit KI, personalisierter Medizin, Robotik oder dem Internet der Medizintechnik mithalten zu können.

ELeGAntes System

Dänemark hat das schon längst ausjudiziert. Die Nummer zwei beim Digital-Health-Index ist die globale Nummer eins bei Telemedizin. Patienten, etwa chronisch Kranke oder Frühchen, können in ihrem Zuhause fernüberwacht werden. Überhaupt wird die Versorgung im privaten Umfeld forciert. Digitale Tools, wie Sensoren oder Tablets, stehen den Patienten in ihren eigenen vier Wänden zur Verfügung. Damit sinkt die Aufenthaltsdauer in den Krankenhäusern. Ob das 1:1 in Österreich umsetzbar ist, ist fraglich, denn die Dänen haben deutlich mehr Vertrauen in digitale Tools als die Österreicher. Der Streit rund um Telemedizin zeigt auf, dass es oft noch um die Basics wie die elektronische ­Gesundheitsakte (ELGA) geht. Für Hannes ­Sachsenhofer, ­Geschäftsführer von Adliance, einem ­Unternehmen, das sich auf ­digitale Medizinprodukte spezialisiert hat, steckt in dieser digitalen Patientenakte allein schon gewaltiges Potenzial: „Wir haben immer diese Hypethemen wie AI und Co. Doch wenn jeder Patient alle Befunde an einer Stelle hat, dann könnte man großen Nutzen daraus ziehen. Ein Arzt weiß beispielsweise nicht, welche Medikamente ein Kollege verschrieben hat.“ ELGA sei da schon ganz gut, aber noch nicht gut genug. „Das Thema ‚Patienten­akten‘ klingt extrem langweilig und es ist organisatorisch schwierig, Kranken­häuser, Kassen oder Ärzte­verbände zu vereinen, doch das würde sofort einen massiven Nutzen bringen.“
 

Österreichs Szene blüht

ELGA wird nicht nur vom Experten gelobt, auch die EU-Kommission sieht die rot-weiß-rote elektronische Gesundheitsakte positiv und das macht Österreich zu einem „Leapfrogger“. Das zeigen auch die Zahlen der heimischen Life-Science-Branche. Zwar ist ­Digital Health streng genommen nur ein Teil dieser, doch der Großteil der Life-­Science-Unternehmen ist auch eine Digital Health Company. Es lässt sich daher kaum trennen. 1.174 Unternehmen sowie 56  Forschungs- und Bildungseinrichtungen zählte die heimische Branche Ende 2023. 73.400 Beschäftigte erzielten einen Umsatz von knapp 40 Milliarden Euro. Das Wachstum an Umsatz und Personal übersteigt das anderer Branchen. Zwischen 2021 und 2023 wurden 13  Prozent mehr Mitarbeiter eingestellt. Der Umsatz stieg in diesem Zeitraum um 20  Prozent. Der aktuelle „Life ­Science Report Austria 2024“ stellt auch Oberösterreich ein gutes Zeugnis aus. 12.000 Beschäftigte erwirtschaften beachtliche 6,2 Milliarden Euro Umsatz und zwar in allen Klassen von I bis III – zahlreiche Patente inklusive. 
 

Auch Ärzte haben ein Cockpit

Zu den oberösterreichischen Flaggschiffen der Branche zählt die in Wels an­sässige x-tention Unternehmensgruppe. Eines der hoch innovativen Produkte ist das „Hospital Command Center“, ein „Cockpit“ für Echtzeitentscheidungen in Krankenhäusern, das Entscheidungsträger durch Prognosefunktionen und Datenanalysen unterstützt. „In Zeiten von Personalmangel und immer knapperen Ressourcen ist es für Führungskräfte im Krankenhaus unerlässlich, ihre Entscheidungen schnell und fundiert auf Basis von verlässlichen Daten und Prognosen zu treffen, um die Versorgung im Krankenhaus für die Patienten weiterhin jederzeit sicherzustellen“, so ­Michael Punz, Geschäftsführer von ­solvistas, einem 100-%-Tochterunternehmen von x-tention, das auf Data Science spezialisiert ist. „Durch die intelligente Verknüpfung von internen und externen Daten können auf Basis der Technologie aus der ­x-tention Unternehmens­gruppe, ­beispielsweise Primare und Krankenhausmanager, frühzeitig darüber informiert werden, bevor kritische Bereiche im Krankenhaus die Kapazitätsgrenzen erreichen.“ Zudem können auf Basis von Echtzeit­informationen, etwa welches Personal gerade im Dienst ist, „gekoppelt mit historischen Daten auch automatisiert Handlungsempfehlungen vorgeschlagen werden, wie diese kritischen Situationen kompensiert werden können“, so Punz. 
 

Greiner Bio-One liefert nicht nur Hardware für Labore, wie Pipetten, Blutröhrchen oder Mikroplatten, sondern auch digitale Lösungen zur Unterstützung von Diagnose- prozessen in über 100 Ländern.

Von Bierkisten und Petrischalen

Auch Greiner Bio-One ­International ist eines dieser globalen Aushängeschilder der heimischen Branche. Was 1963 mit einer Petrischale aus Kunststoff begann, sind heute Produkte für den Laborbedarf, die zu 90  Prozent in den Export gehen und in mehr als 100  Ländern weltweit verkauft werden. Vernetzte Laborsysteme, digitale Lösungen zur Unterstützung von Diagnoseprozessen und Software für Datenmanagement machen aus Greiner Bio-One ein Digital-Health-Unternehmen. Greiner ­Bio-One ist auch Keimzelle des 2016 ausgegründeten Spin-offs Genspeed Biotech, das sich der Entwicklung, Produktion und dem Vertrieb in  vitro diagnostischer Schnelltests verschrieben hat. So werden beispielsweise Tests auf Covid-19 oder FSME mit der Technologie aus Rainbach von zwei bis vier Stunden auf 20 Minuten verkürzt. Patentierte Technologie aus der Bierregion Mühlviertel. Und Bier war auch der Ursprung einer Technologie, welche die Frauengesundheit revolutionierte. Paul Kretz, Spross der Brau-Dynastie in Zipf, experimentierte mit Ultraschall zur Materialprüfung von Bierkisten aus Metall. Er wurde von einem Wiener Frauenarzt auf das Potenzial in der Medizintechnik aufmerksam gemacht. Schlussendlich kam mit „Combison 100“ das erste kommerziell erhältliche Ultraschallsystem auf den Markt. Die einstige „Kretztechnik“ ist heute Teil des GE-HealthCare-Konzerns. Die globale Ultraschallforschung und -fertigung ist nach wie vor in Zipf untergebracht. Neuester Wurf der mittlerweile emissionsfreien Produktion sind die tragbaren „Vscan Air™“-Geräte. Sie sind so groß wie ein Smartphone und lassen sich mit diesem koppeln. „Der Anspruch dieses Geräts ist nichts weniger, als das Stethoskop abzulösen“, so Günther Hüll, Standortleiter bei GE HealthCare in Zipf. Natürlich ist die Technologie patentiert. 2024 meldeten Unternehmen in der Medizintechnik unglaubliche 16.000 Patente an.
 

Globaler Innovationstreiber

Um in diesem Feld mit KI, personalisierter Medizin, Robotik oder dem Internet der Medizintechnik (IoMT) global mithalten zu können, braucht es belastbare Kooperationen, wie Frauke Wurmböck, Managerin des Medizintechnik-Clusters (MTC), fordert: „Unternehmen, die internationale Zusammenarbeit fördern – etwa über Partnerschaften, gemeinsame Projekte oder Vertriebsnetzwerke außerhalb des Heimatmarkts –, sind für die Herausforderungen oft besser gewappnet.“ Niemand scheint mehr eine „Insel der Seligen“ zu sein, die sich von den globalen Trends abkoppeln kann, wie man drastisch an einem der einst wichtigsten Länder der Branche, Großbritannien, sehen kann. L.E.K. Consulting hat in einer aktuellen Studie erhoben, dass die britische Life-Science-Branche in den vergangenen zehn Jahren jährlich bis zu 15 Milliarden Pfund verloren hat. „Solche Beispiele verdeutlichen, wie schmal der Grat zwischen geopolitischer Abkopplung und Marktverlust ist. Europa muss deshalb gegensteuern – mit aktiver Kooperation und Vielfalt“, betont Wurmböck.
 

2001 wurde x-tention gegründet. Co-Gründer und Inhaber Herbert Stöger arbeitete vorher als IT-Leiter in verschiedenen Kliniken. 2025 wurde der neue x-tention Campus für 350 der 800 Mitarbeiter eröffnet.

Die Esten sind die Besten

Noch profitiert die europäische Branche von einigen hoch innovativen Ansätzen in Ländern wie Estland, Dänemark oder Spanien, die zu den global führenden Nationen bei Digital Health gehören. Estland etwa führt den Digital-Health-Index als Nummer eins an und das hat seinen Grund. Die Balten sind an digitale Services gewohnt und bringen den Systemen höchstes Vertrauen entgegen. Kaum ein Land hat eine höhere digitale Kompetenz in der Breite. Wie die österreichische ELGA hat auch in Estland jeder Mensch eine Online-Gesundheitsakte. Auf diese können nicht nur Ärzte, sondern auch Patienten zurückgreifen. Zu e-Rezepten wie in Österreich gibt es auch noch die e-Ambulance, die eine rasche Notfalllokalisierung ermöglicht. 
 

Ungesunde Regulatorien?

Doch Europa macht es den Unternehmen nicht leicht. Vor allem KMU sind mit den Regulatorien oft überfordert. Laut der MedTech Europe Regulatory Survey vom Jänner 2025 ist die ­Hälfte aller Hersteller besorgt, dass Kosten und Zeitbudget rund um Zertifizierungen steigen können. Das rächt sich: Die EU als Region von Erstzulassungen zu wählen, sank um 33  Prozent bei großen Unternehmen, um 19  Prozent bei KMU. Den europäischen Branchenleadern sind Länder wie Kanada oder Israel bereits auf den Fersen. In ­Israel trifft eine digital affine Bevölkerung auf Innovationsgeist und auf ein spezielles israelisches Gesundheitssystem. Obwohl über ein gesetzliches Versicherungsprinzip finanziert, basiert es auf vier großen und vom Staat unabhängigen „Health Maintenance Organization“ (HMO), sprich Gesundheitsdienstleistern. Diese stehen in scharfer Konkurrenz zueinander, was den Wettbewerb und die Innovationskraft fördert. Die soll nun auch in Österreich steigen. Es gibt jedenfalls ambitionierte Pläne. Bis 2030 will man zu den Top-Nationen aufschließen. 
 

Österreich hat eine Strategie

Im Sommer 2024 wurde dazu die „eHealth-Strategie Österreich“ präsentiert. Und da scheint man sich einiges von Dänemark abgeschaut zu haben. Der Leitsatz lautet: „Digital vor ambulant vor stationär“. Bis 2030 sollen alle Bürger einen digitalen Zugang zum Gesundheitssystem bekommen. Weiters sollen telemedizinische Angebote, wie eine flächendeckende Videokonsultation ab 2026, ausgebaut werden. Digitale Gesundheitsanwendungen, sogenannte DiGAs, sollen noch heuer im Rahmen von Pilotprojekten getestet werden. Ob sich das nun in Anbetracht der gekippten Ausschreibungen der ÖGK halten lässt, sei dahingestellt. Doch die Branche ist es gewohnt, sich an volatile Rahmenbedingungen anzupassen: Sie „ändern sich laufend und nur wer up to date bleibt, kann seinen Kunden Sicherheit bieten. Für uns bedeutet das: permanente Weiterentwicklung, enge Zusammenarbeit mit Fachgremien und ein offenes Ohr für unsere Nutzer. Gerade Themen wie ELGA-Anbindung oder die Integration von DiGAs werden die nächsten Jahre prägen“, bringt es ­Stefanie Schauer, Geschäftsführerin von Offisy, einem der führenden Hersteller von Software für Arztpraxen, auf den Punkt. Solche DiGAs jedenfalls, etwa in Form von Apps, sollen bei chronische Erkrankungen wie Diabetes eingesetzt werden. Und schlussendlich sieht die „eHealth-Strategie Österreich“ vor, Gesundheitsdaten für die Forschung nutzbar zu machen, selbstverständlich unter höchsten Datenschutzstandards. Politischer Streit scheint auch hier vorprogrammiert zu sein. Gesundheit bleibt typisch österreichisch: „Heiß umfehdet, wild umstritten“. Doch allen Playern im hochdifferenzierten Gesundheitssystem sei eine Volksweisheit ins Pflichtenheft geschrieben: „Der Gesunde hat viele Wünsche, der Kranke nur einen.“ 

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