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Zwei Frauen umarmen sich und lächeln
Zuneigung, Nähe und ein Gefühl der Verbundenheit gehören zu den Grundbedürfnissen des Menschen.
Zuneigung, Nähe und ein Gefühl der Verbundenheit gehören zu den Grundbedürfnissen des Menschen.
iStock.com/javi_indy

Neuer Trend: Freundschaft vor Beziehung

01.07.2025 um 09:00, Nina Dam
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Nicht jede große Liebe ist romantisch – warum immer mehr junge Frauen Freundschaften an erster Stelle setzen und ein gesellschaftliches Umdenken fordern.

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Liebesfilme, Liebeslieder, Liebesbücher – man könnte fast behaupten, wir Menschen sind von diesem besonderen Gefühl der Zuneigung nahezu besessen. Aber warum denn auch nicht? Durch Liebe fühlen wir uns lebendig, sie erfüllt uns mit Leichtigkeit und sie ist für viele auch der Sinn des Lebens. Kein Wunder also, dass sich so gut wie alles darum dreht. Es ist aber keineswegs nur von romantischer Liebe die Rede – auch die Liebe zu Freunden, zum Beruf oder zu einem bestimmten Hobby macht uns glücklich. Und doch scheint gerade eine Form der Liebe besonders wichtig zu sein, ja fast schon alternativlos – die romantische. In unserer Gesellschaft gilt sie oft als das ultimative Ziel. In den letzten Jahren begann sich das Blatt aber langsam zu wenden: Immer mehr junge Frauen setzen innige Freundschaften an erster Stelle. Hat die romantische Liebesbeziehung in der kommenden Generation ausgedient?

Freundschaft vor Romantik

Erklärungsansätze für dieses Phänomen gibt es viele. Teresa Pelzmann, Psychotherapeutin aus Graz, erzählt: „Viele meiner Klientinnen verbinden romantische Beziehungen mit Unsicherheit und Überforderung – Freundschaften hingegen geben ihnen Halt, ohne emotional abhängig zu machen.“ Frauen übernehmen in Partnerschaften auch oft die emotionale Verantwortung und fühlen sich allein dafür zuständig, die Beziehung aufrechtzuerhalten. Das führt dazu, dass die eigenen Bedürfnisse übergangen werden, wodurch wiederum emotionale Defizite entstehen können. Alexandra Marko-Hinteregger, Paarberaterin und Beziehungscoach aus Tobelbad bei Graz, betont zudem: „Enge Freundschaften fühlen sich oft einfacher an, weil man sich nicht so sehr mit Andersartigkeit konfrontiert sieht wie in einer Paarbeziehung.“ Auch durch die mediale Welt wird die Vorstellung beziehungsweise die Erwartung von romantischen Beziehungen teilweise stark beeinflusst. „Einerseits wird durch Social Media ein idealisiertes Bild von Beziehung und Liebe erzeugt, andererseits wird in ‚Situationships‘ unser idealisiertes Bild von Liebe nicht erfüllt. Das kann zu Frustration führen und dann zur aktiven Entscheidung, keine Liebesbeziehung eingehen zu wollen“, so Pelzmann. Ebenso spannend: Einige Studien zeigen, dass unverheiratete, kinderlose Frauen als die zufriedenste Bevölkerungsgruppe gelten – zumindest, wenn man sie nicht nach gesellschaftlichen Erwartungen, sondern nach ihrem subjektiven Wohlbefinden befragt.

Freundschaften bieten oft mehr emotionale Sicherheit als romantische Beziehungen – ohne Abhängigkeit oder Machtungleichgewicht.

Teresa Pelzmann, Psychotherapeutin

Zwischenmenschliche Beziehungen

So gesehen ist es vielleicht gar nicht so schlecht, sich von veralteten Überzeugungen zu lösen und Freundschaften einen neuen Stellenwert zu verpassen. Heutzutage sollte es kein Tabuthema mehr sein, wenn die Suche nach dem perfekten Partner nicht Priorität hat. „Manche Frauen entscheiden sich ganz bewusst gegen eine Liebesbeziehung – aus Selbstschutz, beruflichem Fokus oder weil es einfach nicht zur aktuellen Lebensphase passt“, bringt es die Psychotherapeutin nochmals auf den Punkt. Doch auch wenn romantische Beziehungen – zumindest in der jüngeren Generation – nun nicht mehr als das erstrebenswerteste Ziel im Leben gesehen werden, ist die Spezies Mensch nicht für das Alleinsein bestimmt. „Wir erwarten von Beziehungen heute vielleicht nicht mehr alles – aber die Sehnsucht nach Nähe ist geblieben“, so Marko-Hinteregger. Die Harvard-Studie „Adult Development“ macht das deutlich: Seit über 80 Jahren wird das Leben von rund 2.000 Menschen begleitet, um herauszufinden, was ein erfülltes Leben ausmacht. Das Ergebnis: Zwischenmenschliche ­Beziehungen sind der wichtigste Indikator für Lebensglück und Gesundheit. Es geht hierbei nicht primär um die Ehe oder um die romantische Liebe – entscheidend ist, ob man unterstützende soziale Bindungen hat. Fakt ist, dass sich Einsamkeit negativ auf die Gesundheit auswirkt. So sind die gesundheitlichen Folgen sogar vergleichbar mit den Konsequenzen von Rauchen oder Fettleibigkeit.

Ein Mann küsst eine Frau auf die Stirn
Manche Menschen finden Erfüllung in einer romantischen Partnerschaft, andere im tiefen Vertrauen einer Freundschaft.

Neuer Denkanstoß

Wie zu Beginn erwähnt, gibt es viele unterschiedliche Facetten und Formen von Liebe. Und wie so oft im Leben lässt sich auch hier nicht alles klar in schwarz und weiß einteilen. Am Ende sind wir wohl alle froh, jemanden an unserer Seite zu haben – in welcher Beziehungsform auch immer. Und vielleicht führt der neue Blick auf Beziehungen zu einem langsamen Umdenken in der Gesellschaft: Das Glück des Lebens muss nicht zwingend mit dem Finden der großen, romantischen Liebe in Zusammenhang stehen. Gerade junge Frauen, die auch heute noch mit überholten Rollenbildern ringen, sollten nicht dafür kritisiert werden, ihren eigenen Weg zu gehen. Die Beziehungsexpertin empfiehlt: „Frauen sollten sich weniger an äußeren Beziehungsideen orientieren, sondern ihrer Intuition und ihren persönlichen Bedürfnissen vertrauen. Eine professionelle Begleitung kann gegebenenfalls helfen, eigene Muster zu reflektieren und mehr Selbstsicherheit zu gewinnen.“ Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit, Liebesmodelle neu zu denken – jenseits von Normen, Erwartungen und gesellschaftlichem Druck. Denn am Ende geht es vor allem um eines: innige Verbundenheit. Ein komplexes Thema, das mit der Liebe.

Interview mit Beziehungscoach Alexandra Marko-Hinteregger

Hat sich das Verständnis von Liebe, Partnerschaft und Bindung Ihrer Meinung nach in den letzten Jahren verändert?
Marko-Hinteregger: Ja, definitiv. Junge Menschen erwarten heute nicht mehr alles von einer romantischen Beziehung. Das Ideal der lebenslangen Partnerschaft hat sich gewandelt – viele stammen aus Familien mit Trennungserfahrungen. Wir brauchen heute keinen Partner mehr für finanzielle Sicherheit oder Kinder. Aber: Die grundlegende Sehnsucht nach intimer, sicherer Verbindung bleibt bestehen.

Viele Frauen berichten, dass sie sich in Freundschaften emotional sicherer und mehr gesehen fühlen. Was können romantische Beziehungen davon lernen?
Marko-Hinteregger: Freundschaften entstehen oft mit Menschen, die uns ähnlich sind – das macht sie leicht. In romantischen Beziehungen treffen meist unterschiedliche Persönlichkeiten aufeinander, was mehr Konfliktpotenzial bringt. Diese Beziehungen fordern uns emotional mehr heraus und spiegeln oft alte Wunden. Wichtig ist, in Beziehungen sowohl Halt in sich selbst zu finden als auch füreinander da zu sein – trotz Unterschiedlichkeit.

Was raten Sie Frauen, die zwischen Selbstverwirklichung und dem Wunsch nach Nähe hin- und hergerissen sind?
Marko-Hinteregger: Selbstverwirklichung und Nähe sind zwei Pole, zwischen denen wir alle pendeln. Wenn es innerlich zu einem starken Hin und Her kommt, stecken oft unbewusste Überzeugungen dahinter. Dann hilft es, sich Fragen zu stellen wie: Wonach sehne ich mich wirklich? Was glaube ich, tun zu müssen – und warum? Wer die eigenen inneren Konflikte erkennt, kann freier und bewusster Entscheidungen treffen.

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