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Die graue Materie - hat unser Gehirn ein Geschlecht?

18.03.2024 um 00:00, Nina Dam
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Frauen sind empathischer, Männer parken besser ein. Gender-Klischees sind auch noch in der heutigen Zeit fest in unseren Köpfen verankert.

Das menschliche Gehirn: eine etwa 1,5 Kilogramm schwere Masse, die wie ein großer Computer tagtäglich für uns arbeitet. Ununterbrochen werden unzählige Sinnesein­drücke und Informationen verarbeitet, währenddessen lebensnotwendige Körperfunktionen automatisch gesteuert werden. Doch es kann noch viel mehr als das: Das faszinierende Organ ermöglicht es uns Menschen, zu denken und zu fühlen – es ist das Zentrum des emotio­nalen Erlebens.


Zusammenhang.
Die typischen Geschlechter-Klischees sind auch im 21. Jahrhundert noch weit verbreitet und es fällt uns Menschen schwer, uns davon zu lösen. Denn Denkweisen wie „Männer handeln zielorientierter und parken besser ein“ oder „Frauen sind empathischer und können besser über ihre Gefühle reden“ sind tief in unserer Gesellschaft verankert. Die Frage lautet: Ist da wirklich etwas dran? Im Zuge dessen suchen Experten schon seit Jahren nach geschlechtsspezifischen Eigenheiten in der Struktur und Funktion unseres Gehirns – die Ergebnisse sind nicht eindeutig.


Die physischen Unterschiede.
Im Durchschnitt ist das männliche Gehirn etwa 10 bis 15 Prozent größer als das weibliche. „Ebenso konnten Studien Unterschiede hinsichtlich der Dicke der Hirnrinde beziehungsweise der grauen Substanz und der Nervenvernetzungen in bestimmten Hirnregionen nachweisen“, erklärt Tamara Gattringer, Fachärztin für Neurologie in Graz. Eine ­Studie aus dem Jahr 2020 zeigte auch, dass ­Männer mehr Volumen in den ­hinteren und seitlichen Arealen des Kortex besitzen, die dafür verantwortlich sind, Objekte sowie Ge­sichter zu erkennen.


Hormone.
Ein weiterer Unterschied sind die weiblichen und männlichen Sexualhormone. „Diese dürften eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Gehirns spielen“, betont Gattringer. Und nicht nur das: Sie scheinen auch Auswirkungen auf die Hirnfunktion zu haben. In diesem Zusammenhang erläutert die Expertin: „Das weibliche Sexualhormon Östrogen beeinflusst schon vor der Geburt die Gehirnentwicklung. Bestimmte Regionen weisen auch eine unterschiedliche Dichte an Östrogenrezeptoren auf.“ Hierbei ist allerdings wichtig zu erwähnen, dass das männliche Sexualhormon Testosteron ebenso in Östrogen umgewandelt werden kann – dennoch ist das Gehirn von Frauen mehr Östrogen ausgesetzt als jenes der Männer. „Dadurch werden verschiedene Hirnregionen bei Mädchen und Jungen ungleich geformt sowie unterschiedlich miteinander vernetzt“, so Gattringer. Grundsätzlich beeinflussen Östrogene nicht nur unser Verhalten und unsere Stimmung, sondern auch kognitive Funktionen wie Lernen oder Aufmerksamkeit.

 

Dr. Tamara Gattringer

Man kann nicht einfach so zwischen "männlichem" und "weiblichem" Gehirn unterscheiden. Denn neben genetischen Faktoren haben auch Umwelteinflüsse, Erfahrungen sowie gesellschaftliche und kulturelle Gegebenheiten einen wesentlichen Einfluss auf die Hirnentwicklung.

Dr. Tamara Gattringer, Fachärztin für Neurologie
Das Gehirn

Frauen erkranken häufiger.
Es gibt einige neurologische Erkrankungen, die das weibliche Geschlecht viel öfter treffen als das Männliche. „Zum Beispiel tritt die Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose zwei- bis dreimal häufiger bei Frauen als bei Männern auf“, erklärt die Neurologin. Warum das so ist, konnte bisher noch nicht geklärt werden. Experten nennen Umwelt­einflüsse, wie eine niedrige Sonnenexposition und einen ungesunden Lebensstil, wie Rauchen und Übergewicht, als mögliche Risiko­faktoren. Zudem erwähnt Gattringer: „Es leiden auch deutlich mehr Frauen an Migräne­-Kopfschmerzen. Der Einfluss der ­weiblichen Sexualhormone scheint auch hierbei eine zentrale Rolle zu spielen, denn die Symptome verbessern sich häufig in den ersten Phasen des Wechsels und verringern sich nach dem Wechsel deutlich.“ Darüber hinaus erläutert die Expertin: „Frauen haben in allen Altersgruppen ein geringeres Schlaganfall-Risiko, da sie durchschnittlich weniger Risikofaktoren ausgesetzt sind als Männer – die weiblichen Geschlechtshormone dürften auch hier dazu beitragen.“ Aber nicht nur bei neurologischen Erkrankungen wird der Einfluss von Östrogen & Co. wieder einmal deutlich erkennbar, sondern auch bei Gefäßerkrankungen sollen die Sexual­hormone sogar einen positiven Effekt haben. Trotz allem konnten tatsächliche Ursachen für die Unterschiede bei den Erkrankungen bis heute nicht konkret festgesellt werden. Dennoch sind die meisten neurologischen Probleme mittlerweile gut behandelbar und mit Hilde der richtigen Expertise kann bei den meisten Patien­tinnen eine gute Lebensqualität erreicht werden.

Anpassungsfähig.
Zusammenfassend scheint es nun so, als hätten die verschiedenen Hormone in unseren Körpern einen enormen Einfluss auf unser Tun und Handeln, aber auch hinsichtlich bestimmter Krankheiten. Darüber hinaus gibt es auch kleine physische Unterschiede, doch der springende Punkt ist: Es kann trotz alledem nicht von einem typisch weiblichen beziehungsweise typisch männlichen Gehirn die Rede sein. Warum? „Weil neben den genetischen Faktoren auch Umwelteinflüsse und unterschiedliche Erfahrungen einen wesentlichen Einfluss auf die Hirnentwicklung haben“, erläutert Gattringer. Denn unser ­Denk­organ bleibt nach einem bestimmten ­Alter nicht einfach ­„stehen“, ­sondern befindet sich in einem ­stetigen Wandel durch Lernprozesse, Erfahrungen sowie äußere Einflüsse – gänzlich unabhängig vom Geschlecht. Einfach ausgedrückt bedeutet das, dass das Gehirn so arbeitet und sich so gestaltet, wie es im Endeffekt benutzt wird.

 

 

Das Gehirn ist das Organ der Persönlichkeit, des Charakters und der Intelligenz und maßgeblich daran beteiligt, Sie zu dem zu machen, der Sie sind.

Dr. Daniel Amen, Amerikanischer Neurowissenschaftler, Kinder- und Jugendpsychiater
Stereotype
Mädchen mögen die Farbe Rosa und spielen gerne mit Puppen. Dieses Bild ist tief in der Gesellschaft verankert.

Die Verbindung.
Frauen und ­Männer werden schon früh in die typischen Rollen des jeweiligen Geschlechts gesteckt. Beispielsweise lernt die Gesellschaft bereits kleinen Jungs, immer tougher als Mädchen sein zu müssen und dass Gefühle zu zeigen ein Zeichen von Schwäche sei. So setzen sich die typischen Stereotype schon im Kindesalter in unseren Köpfen fest und es wird immer schwieriger, sie wieder aus dem Kopf zu verbannen. In diesem Zusammenhang konnten Hirnforschungen zeigen, dass die faszinierende Masse in unserem Schädel wie eine lebenslange Baustelle funktioniert – man könne es beispielsweise mit einem Hausbau vergleichen. Demnach haben F­rauen und Männer, vor allem aufgrund der Hormone, ein unterschiedliches ­Fundament, welches jedoch grundsätzlich aus den gleichen Materialien besteht. Der weitere Ausbau des Hauses wird aber durch äußere Faktoren, wie die Umwelt, weitgehend beeinflusst.

 

Unterschiede
Unterschiede. Im Durchschnitt ist das männliche Gehirn etwa 10 bis 15 Prozent größer als das weibliche.

Schwierige Materie.
Schlussendlich kann also festgestellt werden: Ja, scheinbar sind gewisse Hirnregionen bei Frauen und Männern unterschiedlich vernetzt und ja, die weiblichen sowie männlichen Hormone haben einen enormen Einfluss. Nichtsdesto­trotz wird angenommen, dass das Gehirn kein Geschlecht hat. Viele Forscher schlussfolgern demnach, dass die Umweltbedingungen zu den geschlechtsspezifischen Unterschieden führen. Gattringer erwähnt hierbei: „Auch soziale und kulturelle Gegebenheiten sowie Erfahrungen beeinflussen unser Gehirn.“ Folglich ist es an der Zeit, sich von typischen Geschlechter-Klischees zu lösen – denn es gibt genügend Frauen, die ohne jegliche ­Einparkhilfe perfekt einparken können und es gibt genügend Männer, die überaus ­empathisch sind.

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