Warum so aggressiv? Zorn auf unsere Mitmenschen wird zur Volkskrankheit
Am morgen ist die Welt des Hermann F. noch in Ordnung. Er erwacht in einem der reichsten Länder der Welt, öffnet die Tür zu einem üppig gefüllten Kühlschrank, duscht heiß und zieht ein frisch gewaschenes Designerhemd an. Doch kaum verlässt er das Haus, stürmen die Ärgernisse nur so auf ihn ein.
Der Wut-Parcours
Warum hat jemand eine leere Cola-Dose nicht in, sondern neben den Mistkübel geworfen? Der Bettler an der Hausecke geht Hermann F. auch auf die Nerven. Wie der einen anschaut! Und dieses „bittä! bittä!“. Wenig später schließt die UBahn die Türen genau vor seiner Nase. Dabei hat der Fahrer ihn ganz genau gesehen! Herr F. spürt eine nahezu unkontrollierbare Wut in sich aufsteigen. Stünde der UBahn- Fahrer jetzt vor ihm, er würde ihm dermaßen eine … Mitarbeiter im öffentlichen Dienst bekommen Aggressionen unmittelbar zu spüren. Ein Beispiel: 2013 wurden 77 Übergriffe gegen Mitarbeiter der Wiener Linien registriert. „Tätliche Angriffe sind etwas, mit dem man nicht rechnet“, sagt Reinhard Artinger. Er ist seit 34 Jahren für die Wiener Linien tätig, u. a. als Buslenker, und ist Mitglied des Kriseninterventionsteams „Sozius“. „Bei Angriffen geht es gegen einen selbst. Da ist plötzlich jemand, der greift mich an! Wie komme ich dazu, ich mache doch nur meine Arbeit.“
Eine Frage der Rangordnung
Auch AMS-Mitarbeiter berichten von „gesteigerter Kundenaggressivität“, Amokläufe an österreichischen Gerichten machen immer wieder Schlagzeilen. Bei den Tätern handelt es sich meist um Menschen mit massiver Existenzangst. Aggressionsforscher, allen voran der gebürtige Wiener Friedrich Hacker (1914 – 1989) haben den Zusammenhang längst bewiesen: Aggressives Verhalten ist eine Reaktion auf das bewusste oder unbewusste Gefühl der Bedrohung – Stress. Hacker identifizierte als weiteren Auslöser die „Infragestellung der Rangordnung“, und diagnostizierte eine „Brutalisierung der modernen Welt“. Da mag die Statistik des Bundeskriminalamts zunächst verwundern: Schwere Gewaltdelikte sind rückläufig. So gingen die Fälle von vorsätzlicher Tötung 2013 im Vergleich zu 2012 um 36 Prozent zurück, vorsätzliche Körperverletzung um 4,4 Prozent. „Wir führen das auf umfangreiche Präventionsmaßnahmen zurück“, so der Direktor des BKA, General Franz Lang.
Der Troll geht um
Um die Wut des Herrn F. kümmert sich dagegen niemand. Den lieben langen Tag muss er sich ärgern, seine Grenzen abstecken, sich zur Wehr setzen oder andere in die Schranken weisen. Im Büro sägt der Kollege fleißig am Sessel. An der Kasse geht es wieder besonders langsam voran. Und dann diese Medien! Auf der Website einer von ihm gehassten Tageszeitung hinterlässt Hermann F. abends vor dem Schlafengehen noch rasch einen gehässigen Kommentar. Er ist ein „Foren- Troll“ – also einer jener User, die provozierende oder beleidigende Beiträge posten und so sachliche Debatten stören. Eine aktuelle Studie zeigt: Teilnehmer, die sich im Internet bösartig äußern, agieren bald auch im „echten Leben“ aggressiver als zuvor. Damit ist bewiesen, dass sich feindselige Gedanken auf das Verhalten auswirken. Wer mit seiner eigenen Aggressiviät hadert, sollte also in seinem Kopf beginnen. Herr F. ist noch nicht so weit. Er ärgert sich einfach zu gern.