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Nackte Frau in Schwarz-Weiß, die ihre Brüste bedeckt
iStockphoto.com/monkeybusinessimages

Tabu Nacktheit: Die "Angst" vor dem Natürlichen

04.11.2022 um 13:40, Cornelia Scheucher
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Obwohl es das Natürlichste auf der Welt ist, gilt Nacktheit nach wie vor als großes Tabu. Doch woher kommt eigentlich dieses Schamgefühl?

Nackt. So erblickt jeder von uns das Licht der Welt. So wird auch neues Leben gezeugt. Und obwohl nackte Körper quasi der Ursprung alles Lebens sind, haben viele Angst vor ihnen, verstecken sie und schämen sich für jeden kleinsten Makel. 

Angst vor der Blöße

Sex im lichtdurchfluteten Zimmer? Für viele erst in einer länger bestehenden Partnerschaft möglich. Weibliche Brüste. In der Öffentlichkeit, aber auch auf Social Media nach wie vor ein Tabuthema. Instagram sperrt und löscht weiterhin Beiträge, auf denen weibliche Nippel zu sehen sind. Männliche hingegen dürfen ungeniert gezeigt werden. FKK-Strände? Die einen lieben, die anderen meiden sie. Und da wären wir bereits bei einer spannenden Angelegenheit. Denn während die einen ein großes Problem damit haben, nackt zu sein, zelebrieren andere die freie Körperkultur und leben sie auf unterschiedlichste Art und Weise aus. Das hängt einerseits natürlich mit der Erziehung zusammen. Wer in einem Haushalt aufwächst, in dem Nacktheit kein Tabu ist, bekommt einen ganz anderen Zugang zum eigenen Körper und geht oft auch weitaus offener mit der eigenen Sexualität um. Das selbst gewählte Umfeld in Form von Freunden und Partnerschaften kann ebenfalls seinen Teil dazu beitragen. 

Wer Nacktheit als Blöße sieht, stellt sich selbst bloß.

Klaus Ender, Autor, Poet, Fotograf 

Schämen Sie sich?

Wobei man dem Schamgefühl nicht unrecht tun darf – es ist nämlich durchaus wichtig und richtig. Einerseits unterscheidet uns die Scham von allen anderen Lebewesen dieser Erde, andererseits hat sie unser Überleben gesichert. Das soziale Miteinander ist für den Menschen lebensnotwendig, durch das Verbergen der Genitalien wurde dieses quasi gewährleistet. So wurden nicht nur Rivalitätskämpfe verhindert, sondern auch gefährliche Situationen. Während des Sexualaktes sind beide Partner in einem derartigen Hormonrausch, dass sie ihre Umwelt nicht mehr klar wahrnehmen können. Passiert dies öffentlich, gab man sich verwundbar. Übrigens: Ohne das Gefühl der Scham hätte es die Menschheit wahrscheinlich nie so weit gebracht. Ständig entblößte Genitalien zu sehen, erweckt Triebe. Kurzum: Der Mensch würde andauernd an Sex denken und hätte somit wenig Zeit, anderen wichtigen Arbeiten, früher Viehzucht, Ackerbau und Co. nachzukommen. Forscher haben sogar herausgefunden, dass selbst indigene Völker, die nach wie vor nackt oder fast nackt leben, ein Schamgefühl besitzen. Die Kwoma in Neuguinea praktizieren beispielsweise ein strenges Blick-Protokoll. Männern ist es nicht erlaubt, den Frauen auf die Brüste oder den Genitalbereich zu schauen. Begegnen sich die beiden Geschlechter auf einem Pfad, spricht man Rücken an Rücken. 

Frau auf schwarz-weißem Hintergrund

Versteckspiel

Vor etwa 170.000 Jahren begann die Menschheit, ihre Körper zu verdecken. Zuerst mit Blättern und Leder, später mit Textilien. In gewisser Weise verstärkt gerade das Verhüllen der Intimbereiche die sexuelle Anziehung, denn dadurch wurde der gesamte Körper zur erotischen Projektionsfläche. Ob nackte Oberschenkel, volle Lippen, seidiges Haar oder eine markante Kinnlinie sonst je sexy geworden wären? Experten bezweifeln es. 

Nackte Wahrheit

Wie man mit dem Thema umgeht, bleibt jedem selbst überlassen. Hin und wieder nackt zu sein, kann sich aber auch positiv auf die physische wie psychische Gesundheit auswirken. Haben Sie beispielsweise schon einmal den Bikini und die Badehose beim Sprung ins kalte Nass weggelassen? Falls nein, sollten Sie es unbedingt auf Ihre Bucket List setzen. Es gibt wenig Momente, an denen man sich lebhafter fühlt. Zahlreiche Studien beweisen außerdem, dass gelegentliches Nacktsein das Selbstwertgefühl steigert und ein besseres Körperbild schafft. Wer sich langsam rantasten möchte, kann im Eigenheim damit anfangen beim Nacktschlafen.

Drei Fragen an die Sexualtherapeutin Ulrike Paul:

Unsere Gesellschaft bezeichnet sich gerne als liberal: Sind wir das auch beim Thema Nacktheit?

Paul: In den letzten Jahren gab es auf jeden Fall eine gewisse Neutralisierung und Entsexualisierung von nackten Körpern. Nacktheit erregt, regt aber nicht mehr so sehr auf wie früher. Das beste Beispiel ist der Minirock, der mittlerweile gesellschaftsfähig geworden ist und auch von Menschen getragen wird, die vielleicht nicht den klassischen Schönheitsidealen entsprechen. Ich glaube ein Problem ist, dass nicht alle Körperformen gleich repräsentiert werden, wie zum Beispiel Behinderte oder ältere Menschen. Es wäre sehr wichtig, die Vielfalt der menschlichen Körper zu zeigen.

Stichwort "Sexualisierung": Woher kommt diese "Angst" vor weiblichen nackten Körpern?

Paul: Das ist nach wie vor dem Sexismus geschuldet. Frauen sollen aufreizend sein, aber nicht zu viel zeigen. Der weibliche Körper provoziert und wird damit zum Schlachtfeld, auf dem politische Kämpfe ausgetragen werden.

Viele Menschen fühlen sich nackt nicht wohl: Welche Tipps haben Sie?

Paul: Das Besondere am eigenen Körper zu finden. Es ist unmöglich, frei von Normen zu sein, aber es hilft, den eigenen Körper in seiner Individualität zu schätzen. Und dankbar zu sein, dass er gesund ist und funktioniert. Darauf kommt es nämlich an.

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