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Health Care
Die Life Science-Branche lukriert in Österreich so viel Umsatz wie der Bau und das Baunebengewerbe oder der Tourismus in seinen besten Zeiten.
Die Life Science-Branche lukriert in Österreich so viel Umsatz wie der Bau und das Baunebengewerbe oder der Tourismus in seinen besten Zeiten.
Getty Images

Life Science: Das Geschäft des Lebens

15.12.2021 um 06:00, Jürgen Philipp
min read
Nie zuvor stand die Life Science Branche mehr im Fokus als derzeit, und dennoch scheint sie im Verborgenen zu agieren. Vorhang auf für die Unternehmen, die den Erhalt unser aller Gesundheit zum Geschäftsmodell erkoren haben.

Sie sind internationale Superstars, und dennoch nur wenigen außerhalb des medizinisch-wissenschaftlichen Komplexes ein Begriff: Christoph Huber, Josef Penninger und Florian Krammer. Nun rücken sie mit ihrem Wissen in den Vordergrund, denn alle drei stehen in der ersten Reihe, wenn es um die Bekämpfung von Covid-19 geht. Hinter dem Allerweltsnamen Christoph Huber steckt der Wiener Co-Gründer von Biontech. Spätestens jetzt ist der Groschen gefallen. Josef Penninger wurde in Gurten im Innviertel geboren und ist Leiter des Life Sciences Institute an der University of British Columbia, eine der besten Unis weltweit in diesem Bereich. Der Genetiker Penninger entdeckte unter anderem, dass Osteoporose genetisch veranlagt ist, und ist führend bei der Erforschung von Medikamenten, die gegen alle bekannten Mutationen des Virus helfen sollen. Und zuletzt ein Mann, den Sie vielleicht aus dem Fernsehen kennen könnten: Der wohl berühmteste Sohn der steirischen 396-Seelen-­Gemeinde Pack, Florian Krammer. Krammer ist Professor für Impfstoffkunde an der renommierten Icahn School of Medicine in New York City und aktuell ein begehrter Interviewpartner für Medien in aller Welt. Drei rotweißrote Aushängeschilder für die hohe, aber in der breiten Masse kaum beachtete Qualität der heimischen Life-­Science-Forschung und ­-Branche. Eine Branche, die in etwa gleich viel Umsatz lukriert wie der Bau bzw. das Baunebengewerbe oder die Tourismusbranche in Vorpandemiezeiten. Doch dazu später.

Exilösterreicher an vorderster Front gegen Covid

Doch was ist Life Science überhaupt? Wie komplex das Thema ist, zeigt allein schon die Definition. Life Science ist nach bionity.com definiert als: „Naturwissenschaftliche Forschungsrichtungen mit stark interdisziplinärer Ausrichtung, die sich überwiegend mit der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Medizin sowie angrenzender Gebiete beschäftigen“. So weit, so kompliziert. Um dieses Konvolut zu vereinfachen, „unterscheidet man ganz grob in Pharma, Biotechnologie (BioTech) und Medizintechnik (MedTech)“, erzählt Doris Dobida, Direktorin Deutschland der Austrian Business Agency (ABA).

So umsatzstark wie die Bau- und Tourismusbranche

Wie stark diese Life-Science-Branche in Österreich ist, zeigen die nackten Zahlen, die der Life Science Report 2021 bereitstellt. 982 österreichische Unternehmen mit rund 60.000 Mitarbeitern, davon etwa 11.000 in Oberösterreich, erwirtschaften einen Jahresumsatz von 25,1 Milliarden Euro und damit 5,7 Prozent des BIP. Und es geht noch weiter mit Superlativen: Von den 338.000 Studierenden in Österreich entschieden sich 77.000 für ein Studium an den 17 Universitäten und 13 Fachhochschulen die Life-Science-Studien anbieten, also knapp 23 Prozent aller Studierenden. Dazu kommen 24.000 akademische Mitarbeiter an diesen Einrichtungen sowie an weiteren 25 außeruniversitären Forschungsinstituten. Österreich ist damit im internationalen Vergleich unter den Top-10-Nationen zu finden. Warum ist das eigentlich so?

Spurensuche: Warum Österreich Life-Science-Nation ist?

Liegt es etwa an der Tradition, begründbar durch neun Nobelpreisträger, die dieses Land für „Physiologie oder Medizin“ hervorgebracht hat? Nicht unbedingt. „Die Historie und Tradition gibt es in Österreich, aber es gibt auch gezielte Life-Science-Strategien und Förderschwerpunkte, damit man dieses Flämmchen hegt und pflegt. Österreich hat eine hohe Forschungsquote und es gibt ein klares Bekenntnis zur Branche, auch schon vor der Pandemie.“ Zudem sind sich Experten einig, dass die Life-Science-Forschung in Österreich eng verknüpft ist mit einem der besten Gesundheitssysteme der Welt, auch wenn dieses aktuell auf dem Prüfstand steht. Und das lässt man sich etwas kosten, nämlich 11,5 Prozent des BIP. In dieser Summe miteingerechnet ist auch die medizinische Forschung an den Universitätskliniken Wien, Innsbruck, Graz und seit Neuestem Linz. Der Return of Invest sind nicht nur gut versorgte Staatsbürger, sondern auch Unternehmen, die vom hohen Level profitieren.

Life Science = Pharma + MedTech + BioTech

Oberösterreichs Schwerpunkt liegt in der Life-Science-Branche ganz eindeutig im Feld der MedTech, und das ist kein Zufall. „Es ist generell ein Stärkefeld der oberösterreichischen Wirtschaft, technologisches Know-how in Produkte zu transferieren, aber es ist immer noch ein Zukunftsfeld“, schildert Nora Mack, Clustermanagerin des Medizintechnikcluster (MTC). Die starke Werkstoffindustrie schafft es, etablierte Technologien in Medizintechnik zu übersetzen. MIBA etwa beliefert weltweit die führenden Hersteller von Medizintechnik und Greiner Bio One ist zu einem Global Player von medizinischen Verbrauchsmaterialien mit mittlerweile 2.300 Mitarbeitern herangewachsen. „Wir merken, dass immer mehr etablierte Player aus anderen Branchen in die MedTech einsteigen. Sie wollen sich ein zweites Standbein aufbauen, um sich von anderen Branchen unabhängiger zu machen. Dieser Trend war vor der Pandemie nicht so stark.“

Braininterfaces aus Schiedelberg

Doch auch jenseits der großen etablierten Werkstoffplayer sind oberösterreichische Unternehmen in ihrer Diversität am Life-Science-Markt eine Größe. Hier nur ein paar Beispiele. Im Feld der Health-Software spielen die CompuGroup Medical in Linz oder X-tention aus Wels eine tragende Rolle. Von Schiedelberg aus entwickelt und produziert g.tech medical engineering „Hauben“ für EEG-Messungen, sogenannte Braininterfaces. Mediscan in Kremsmünster ist spezialisiert auf die Sterilisation und Entkeimung von Medizinprodukten. Und auch in Zipf wird seit Jahrzehnten Spitzentechnologie produziert.

Was hat Zipfer Bier mit Ultraschall für Schwangere zu tun?

Paul Kretz aus Zipf, der aus einer wohlhabenden Braufamilie stammte, begann 1947, sich mit Sonartechnik zu beschäftigen. Wenn Hochfrequenz-Schallwellen sich durch einen Hohlraum bewegen und auf ein Objekt treffen, senden sie ein Echo zurück. Ein Wiener Frauenarzt erkannte das Potenzial und kooperierte mit Kretz in den 1960ern. Leider waren die Ergebnisse ernüchternd, jeder Fußtritt des Fötus verfälschte das Bild. Der Neffe von Paul Kretz fand die Lösung: Ein Rad mit piezoelektrischen Elementen, mit dem man die Bewegungen des Fötus beobachten konnte. Das daraus resultierende Gerät namens „Combison 100“ von Kretztechnik wurde das erste kommerziell erhältliche Ultraschallsystem in der Schwangerenvorsorge. 1989 erweiterte man die bahnbrechende Erfindung um das erste 3D-Gerät. 2001 erwarb der US-Gigant GE Healthcare das Unternehmen. Der Standort Zipf blieb bestehen und ist selbst im 18-Milliarden-Umsatz-Konzern nach wie vor eine fixe Größe als Spezialist für die Entwicklung diagnostischer Bildgebungsverfahren.

Schwangerenvorsorge
Der Brauereisprössling Paul Kretz aus Zipf und sein Neffe entwickelten das erste kommerziell erhältliche Ultraschallsystem in der Schwangerenvorsorge.

Start-up-Boom bei Life-Science-Entwicklungen

Dieser Pioniergeist spiegelt sich auch in der oberösterreichischen Start-up-Szene wieder, die vor ehrgeizigen Unternehmen, die mit bahnbrechenden Produkten den Weltmarkt aufmischen wollen, nur so strotzt. Surgebright etwa, die hochpräzise humanbiologische Knochenschrauben als schonende Alternative zu Metallschrauben herstellen. ForgTin aus Braunau, welche ein Gerät zur Linderung von Tinnitus entwickelt haben, oder der „Überflieger“ Symptoma, der weltweit leistungsstärkste digitale Symptomchecker, um nur einige zu nennen. Und es wird fleißig am unternehmerischen Nachwuchs gearbeitet. Neben der FH für Medical Engineering und der Linzer Med Uni hat sich die HTL Grieskirchen mit Medizintechnik und Medizininformatik zukunftsträchtige Schwerpunkte gesetzt. Das Land Oberösterreich will diese Expertise bündeln und rief einen Call zum Thema „Digital Patient Journey“ aus. „Dabei geht es um die gesamte Patientenreise von Anfang bis zur Nachdiagnostik. Wir wollen diese so abbilden, dass möglichst die gesamte Wertschöpfung in OÖ bleibt“, so Mack.

Wie man hoch spezialisiertes Know-how im Land halten will

Life-Science-Expertise „made in Austria“ ist „leider“ weltweit gefragt: „Wir haben einen kleinen Brain-Drain. Wenn wir diese Experten in Österreich halten wollen, müssen wir ihnen auch helfen, Unternehmen zu gründen.“ Der viel diskutierte Patentschutz könnte ein Schlüssel dazu sein. Dobida: „Der Patentschutz ist für den Erfinder wichtig. Wir sehen, dass die Start-ups die Früchte ihrer Arbeit lieber selber ernten, als durch den Verkauf an einen Multi viel Geld zu verdienen.“ Doch Wachstum ist speziell in dieser Branche teuer. „Für die internationale Vermarktung braucht es Partner und Infrastruktur. Es braucht Verkaufs­kanäle zu den Ärzten und Krankenhäusern. Da bieten sich Kooperationen mit großen Unternehmen an. Man muss aber aufpassen, dass man nicht geschluckt wird.“ Ein perfektes Beispiel dafür ist Biontech-Pfizer. „Biontech hatte nicht die Produktionskapazitäten für die Weltproduktion. Die Kooperation mit Pfizer machte also Sinn.“ Biontech wiederum kooperiert mit einem österreichischen Unternehmen – Polymun aus Klosterneuburg. Auch Nora Mack kennt die Herausforderungen: „Es ist ein langer Weg auf den Markt. Bei einem Hardwareprodukt ist es noch herausfordernder als bei Software. Aber auch da gab es Verschärfungen, schließlich ist die Patientensicherheit das oberste Gut.“

Patientensicherheit als oberstes Gut – das erfordert Geduld

Nicht zuletzt dadurch ist die Life-Science-Branche von extremem Sicherheitsdenken geprägt. „MedTech ist nicht so einfach strukturiert wie andere Branchen. Es ist alles sehr kleinteilig und es gibt oft keine hohen Stückzahlen. Man muss daher evaluieren, wo man hineinpasst.“ Dazu benötigt es viel Dokumentation, schließlich geht es auch um Haftungsfragen. „Will ich ein finales Produkt auf den Markt bringen oder bin ich Zulieferer? Das ist risikomäßig etwas anderes. Im digitalen Bereich ist das ähnlich. Wie stelle ich sicher, dass auch meine Daten an der richtigen Stelle landen, und wer übernimmt die Haftung? Das ist aufwendig und erzeugt manchmal Frustration, aber es geht schließlich um Menschenleben.“

Pharmastandort Österreich gesichert?

Jene Patientensicherheit war und ist seit jeher in der Pharmabranche an oberster Stelle. Es war ein Dauerbrenner der letzten Wochen und Monate: Wie kann man die strategisch wichtige Pharmaindustrie in Europa halten? Erst kürzlich wurde dazu eine Erfolgsmeldung verkündet. Statt der geplanten Absiedlung von Novartis in Tirol konnte der Konzern überzeugt werden, nicht nur am Standort festzuhalten, sondern ihn sogar um 200 Millionen Euro auszubauen. Weitere 200 Arbeitsplätze wurden geschaffen. Produziert werden unter anderem Antibiotika. Auch andere Pharma­riesen setzen auf Österreich. Boehringer Ingelheim investierte seit 2014 1,4 Milliarden Euro in seinen Forschungs­standort in Wien. Die Schweizer Octapharma eröffnete vor Kurzem ihre F&E-Zentrale ebendort und baute den Standort um 142 Mio. Euro aus. Merck MSD Animal Health gibt 430 Mio. Euro in Krems aus, dort werden Tierimpfstoffe produziert. Und Pfizer steckt weitere 50 Millionen Euro in seinen Standort Orth an der Donau zur Errichtung eines internationalen Pfizer Qualitätskontrollzentrum.

Pharmakonzern
Am Linzer Standort des japanischen Pharmakonzerns Takeda werden hochkomplexe Biologika für den Einsatz in Onkologie und Gastroenterologie produziert und in 70…

Von Linz in 70 Länder weltweit

Doch das Gute liegt oft so nah. Zigtausende Pendler fahren tagtäglich am Produktionsstandort des japanischen Pharmakonzerns Takeda am Linzer Chemiepark vorbei, ohne zu wissen, was hinter den Mauern passiert. „Wir stellen lebenswichtige Arzneimittel für Patienten weltweit her. Die Hauptprodukte gehören zur Gruppe der Biologika, die sich von klassischen Medikamenten durch einen komplexen biologischen Produktionsprozess unterscheiden“, erzählt Roland Fabris, Leiter des Takeda Produktionsstandorts in Linz. Medikamente, die in der Onkologie und Gastroenterologie eingesetzt werden. Ein Produkt zur subkutanen Behandlung chronisch entzündlicher Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa etwa, ebenso wie ein Schlaganfall-Medikament oder ein Hightechpflaster, das in der Chirurgie angewendet wird. Mehr als 40 Produktmarken werden in verschiedenen Fertigungsbereichen in Linz für die Patienten hergestellt und in mehr als 70 Länder weltweit geliefert.

Größter Pharma-Arbeitgeber in Österreich

Takeda ist mit 4.500 Mitarbeitern an seinen drei österreichischen Standorten Linz, Wien und Orth an der Donau der größte Pharma-Arbeitgeber des Landes. In Österreich wird geforscht und produziert. Die Standorte sind fixer Bestandteil des global agierenden Konzerns und sichern die Versorgung von sensiblen Pharmazeutika in Österreich bzw. Europa. Das hält Fabris für zentral: „Covid-19 hat uns einmal mehr gezeigt, wie wichtig es ist, die gesamte Wertschöpfungskette für die Herstellung von pharmazeutischen Produkten im Land zu haben.“ Takeda Linz geht einen Schritt weiter: „Wir setzen auch verstärkt auf regionale Partner bei der Beschaffung von Rohmaterial für die Arzneimittelproduktion. Mit diesem Konzept wird nicht nur der ökologische Fußabdruck verringert, auch in der Coronakrise hat sich dieser Ansatz bewährt, um Lieferschwierigkeiten von Rohstoffen für die Produktion zu vermeiden.“ Die großen Trends in der Pharmaindustrie und damit in der gesamten Life-Science-Branche sieht Takeda etwa im Einsatz von Virtual und Augmented Reality, künstliche Intelligenz, Digital Twins oder Robotic Process Automation. Auch hier könnten künftig wohl einige Unternehmen aus Oberösterreich Lösungen anbieten.

Wohin geht die Reise?

Die Digitalisierung ist der Treiber schlechthin. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz könnte zum Game Changer werden. „Etwa im Patient Monitoring, um zu erkunden, wie die Therapie anschlägt. Das ist von Patient zu Patient verschieden, etwa im Bereich der Onkologie. Da geht es ganz stark darum, die Wirksamkeit der Therapie zu verfolgen und rückzumelden“, erzählt Dobida. Für Nora Mack ist die Pflege eine große Herausforderung der Zukunft, die einen gewissen Digitalisierungs- und Automatisierungsdruck ausüben wird. „Die Personen im Gesundheitswesen sind bereit, sich mit den Technologien anzufreunden. Nicht weil sie Nerds sind, sondern weil sie wieder Zeit für den Menschen haben wollen.“ Technologie und Health-IT können ihnen zeitraubende Arbeiten abnehmen und das Personal für ihre ursächlichste Aufgabe freispielen. „Bei uns gibt es bereits unzählige Projekte in Richtung Robotik, Exoskelette & Co. Es braucht aber die Akzeptanz der Pflegepersonen.“ Und schließlich bringt Doris Dobida ein weiteres Zukunftsfeld ins Rennen: die Stammzellenforschung. Ein Feld, in dem österreichische Unternehmen und Forscher zur Weltspitze gehören. „Stammzellen in Kombina­tion mit Zelltherapie und Gentechnik wird in Zukunft personalisierte Medizin ermöglichen. Ganz besonders im Bereich der Onkologie. In diesem Bereich sind wir exzellent aufgestellt.“ Personalisierte Medizin würde eine Therapie ermöglichen, die komplett auf den einzelnen Patienten abgestimmt ist, ohne einer Medizin mit dem Gießkannenprinzip. Und wer weiß, vielleicht steht in diesem Feld der nächste Nobelpreisträger in Rot-Weiß-Rot schon bald bereits ante portas.

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