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Christoph Leitl
Christoph Leitl will, "dass jedem in Österreich bewusst wird, was für uns alle von einem funktionierenden Europa abhängt. Daher mein Einsatz vor den EU-Wahlen."
Christoph Leitl will, "dass jedem in Österreich bewusst wird, was für uns alle von einem funktionierenden Europa abhängt. Daher mein Einsatz vor den EU-Wahlen."
HERMANN WAKOLBINGER

Leitl: "Trump ist vielleicht eine Chance"

02.04.2024 um 14:26, Klaus Schobesberger
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Ein Gespräch mit Christoph Leitl über die Zukunft der Staatengemeinschaft, Lieferketten, Blumenkinder, Trump und Putin sowie die Gefahr der politischen Extreme.

Was fasziniert Sie an Europa?
Es ist ein geschichtlich einmaliges Projekt. Ich sehe die Vielfalt als den eigentlichen Reichtum an. Deshalb bin ich auch für ein Europa der Regionen. Aber wir dürfen eines nicht übersehen: Wenn Regionalität und Nationalität jedoch in einen Partikularismus ausarten, dann nimmt das Projekt Europa Schaden. 

Was muss sich ändern?
Wir müssen die kleinen Dinge wieder mehr in die Regionen zurückgeben, aber die großen Dinge wie Sicherheit, Außenpolitik, Klima oder Gesundheit müssen auf EU-Ebene verstärkt werden. Der gemeinsame europäische Binnenmarkt ist eines der großen Assets der EU – ihn gilt es in wichtigen Bereichen zu vervollkommnen. Wir haben keinen Kapitalmarkt, darin sind uns die Amerikaner und Chinesen weit voraus. Es fehlt auch eine gemeinsame Innovationsstrategie, die technologieoffene Forschung zulässt. Auch die so wichtige Frage der Energiezukunft, wo es auch um Partnerschaften mit afrikanischen Staaten geht, muss europäisch gelöst werden.

Gerade wird wieder heftig um das Mercosur-Abkommen gestritten. Ist das nicht fast schon ein Ritual?
Eine ähnliche Diskussion mit teilweise abstrusen Argumenten der Gegner gab es ja auch vor dem CETA-Abkommen mit Kanada …

… und wir haben immer noch kein Chlorhuhn im Regal.
Keine der Befürchtungen ist eingetreten. Wir konnten seither das Handelsvolumen um 30 Prozent steigern. Und jetzt haben wir dasselbe Schauspiel mit Mercosur. Wenn wir die Türe zuschlagen, machen sie die Chinesen auf.

Braucht es eine Weiterentwicklung in Richtung Vereinigte Staaten von Europa, wie es einige fordern?
Die Weiterentwicklung ist in meinem Sinn. Den Begriff „Vereinigte Staaten“ würde ich so nicht sehen, das klingt zu sehr nach Amerika und Zentralisierung. Aber in Richtung „Einige Staaten“ mit einem gemeinsamen Auftritt, einer gemeinsamen Außenpolitik ohne Einstimmigkeitserfordernisse, die nur blockieren. Ein klares Ja für demokratische Mehrheiten und in wichtigen Fragen qualifizierte Mehrheiten, ein klares Nein für Einstimmigkeitsbeschlüsse. Das lähmt, macht handlungsunfähig und schädigt längerfristig damit die Demokratie und begünstigt autokratische Systeme.

Was haben wir uns vor Meloni gefürchtet. Heute ist sie eine konstruktive Mitwirkende in Europa.

Christoph Leitl, Industrieller und Autor

Stichwort Lieferkettengesetz: Übertreiben wir es mit der Bürokratie auf Kosten der Wettbewerbsfähigkeit?
Menschenrechte und minimale Umweltstandards einzuhalten ist in den europäischen Genen und Werten verankert. Dazu bekenne ich mich. Ich lehne es allerdings ab, eine riesige Regulierung mit Berichtspflichten, nicht genau definierten Kontrollen und Sanktionen zu unterstützen. Das betrifft nicht nur Konzerne, sondern auch kleinere Betriebe, die ja Teil der Lieferkette sind. Ich schlage vor, es umzudrehen: Die EU-Kommission soll Unternehmen, die ihrer Meinung nach gegen Menschenrechte verstoßen, auflisten. Daran können sich alle anderen orientieren. Nicht die Unternehmen müssen nachweisen, dass ihre Lieferanten in Ordnung sind, sondern die EU-Kommission muss sagen, welche nicht in Ordnung sind. Mit dieser Beweisumkehr erreicht man dasselbe Ziel, ohne den Betrieben ein Bürokratie-Monster umzuhängen.

Sie haben auch Europa-Visionäre wie den kürzlich verstorbenen Jacques Delors kennengelernt. Ist von der Leyen die Richtige an der EU-Spitze?
So jemanden wie Delors würde ich mir wieder wünschen. Die Kommission hat ein Recht, das weder der Rat noch das Parlament haben, nämlich das Initiativrecht. Das heißt, die Weiterentwicklung Europas hängt von der Kommission ab. Ursula von der Leyen ist eine Gefangene der 27 nationalen Einzelinteressen, die heute stärker sind als damals zur Zeit Jacques Delors. Deshalb muss das Einstimmigkeitsprinzip gekippt werden.

Sollte Trump Präsident werden, will er die NATO in dieser Form nicht mehr weiterführen. Die Kritik ist groß, aber muss Europa sicherheitspolitisch nicht erwachsen werden?
Da stimme vollinhaltlich zu. Insofern ist Trump vielleicht sogar eine Chance. Europa muss sich bewusst werden, dass es in einer Lüge gelebt hat. Motto: Wir überlassen die Sicherheit den Amerikanern, dafür sind wir politisch willfährig. Die Willfährigkeit ist heute eine Gefahr. Amerika und China steuern auf eine Konfrontation zu. Ich wünsche mir in dieser Situation ein unabhängiges Europa. Daher müssen wir auch die eigene Sicherheit in die Hand nehmen. Wir brauchen eine Kooperation der vorhandenen europäischen Armeen. Die Idee von Emanuel Macron, einen Sicherheitsrat für Europa zu installieren, ist eine gute.

In einem Kapitel Ihres Buches geht um San Francisco, das Sie im Jahr 1969 besucht haben. Damals war die Friedensbewegung mit den Blumenkindern auf ihrem Höhepunkt. Bleibt Friede auf dieser Welt eine Illusion?
Eine friedliche Welt ist die Hoffnung von 99 Prozent der Menschen. Für mich war der Sinn der Wirtschaft nicht nur Güter- und Dienstleistungsaustausch, sondern immer auch Verbindung zwischen Menschen, die eine friedliche Entwicklung anstreben. Darum hat mich dann der Angriff Russlands auf die Ukraine so sehr schockiert. Es waren in der Geschichte immer die Herrschenden, die dann diese Menschen, die den Frieden wollten, in den Krieg geschickt haben. Und das wird immer ein Thema bleiben.

Sie waren von Putin schockiert?
Natürlich, wie immer man die Vorgeschichte analysiert, das sollen die Historiker machen. Aber Krieg ist immer abzulehnen und wird auch von mir aus dem Innersten abgelehnt. Die europäische Geschichte ist eine Friedensgeschichte aufgrund vorangegangener Kriege, aus denen wir die Lehren gezogen haben. 

Wie gefährlich schätzen Sie die Lage in Deutschland ein, wo die AfD immer breitere Zustimmung erhält?
Zum einen sollten wir uns nicht fürchten. Was haben wir uns vor der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni gefürchtet und heute ist sie eine konstruktive Mitwirkende in Europa. Zweitens: Es hängt auch von allen anderen ab, ob diese Frustrationsventile die Stimmen bekommen oder jene, die eine klare Vorstellung davon haben, was getan werden muss. Aber es sind nicht nur die Rechten, sondern auch die linken Stimmenfänger: Wenn Wohnen nicht mehr leistbar ist, darf man sich nicht wundern, wenn die Kommunisten in Graz oder Salzburg die Wahlen gewinnen. Dazu kommen zum Teil starke Preiserhöhungen der heimischen Energieversorger, die satte Gewinne schreiben. Das ist Futter für Demagogen. Wenn uns das nicht bewusst wird, dann holt uns der Teufel.

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