Direkt zum Inhalt
Profilbild
PIXEDELI / E+ / GETTY IMAGES

Europa braucht einen Neustart

26.03.2024 um 16:02, Klaus Schobesberger
min read
Die Krisenjahre haben die Schwächen der Europäischen Union gnadenlos offengelegt: Zu viel Klein-klein, zu viel Bürokratie und zu wenige Lösungen.

Bei ihrer Kür zur Spitzenkandidatin der Christdemokraten für die Europawahl hat die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Begriff „Grüner Deal“ in ihrer Rede möglichst vermieden, viel öfter war dafür ein anderes Wort zu hören: „Wettbewerbsfähigkeit“. Ohne diese könne es auch keine Klimarettung geben, erklärte die Deutsche bei der Abstimmung in Bukarest. Der Aufstand der Konservativen ist nicht neu: Die EU übertreibe es beim Umweltschutz und vernachlässige die Wirtschaft. Das Fass zum Überlaufen brachte das Lieferkettengesetz. Dem „Bürokratiemonster“ verweigerten Österreich und Deutschland die Zustimmung. Aus der Vision eines gemeinsamen Leitmarkts für grüne Technologien wurde ein Wirtschaftsverhinderungsprojekt. Dass die EU eine der am stärksten regulierten Regionen der Welt ist, darauf wird seit Jahren hingewiesen. Gesetze und Verordnungen werden am laufenden Band produziert. Damit schafft man kein Wirtschaftswachstum – im Gegenteil, sie hemmen Innovationen sowie Investitionen und kosten Milliarden.

ASML
ASML - Europas wichtigster Technologiekonzern droht mit Abwanderung.

Eilfertige Regulierungswut
Die „Financial Times“ schreibt bereits von einer „Wettbewerbskrise“ in Europa, weil die USA ihren Produktivitätsvorsprung gegenüber Europa laufend vergrößern. Diesen Trend zeigen auch neu veröffentlichte Daten: Während die Produktivität in der Eurozone im vierten Quartal um 1,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken ist, stieg sie in den USA im gleichen Zeitraum um 2,6 Prozent. Diese dynamische Entwicklung ist unter anderem auf das milliardenschwere Förderprogramm des Inflation Reduction Act (IRA) zurückzuführen, das den amerikanischen Arbeitsmarkt belebte und einen Gründerboom bewirkte. In Europa passierte das nicht in diesem Ausmaß, dafür explodierten aufgrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine die Energiepreise. Während die USA und China ihren Vorsprung vergrößern, „verliert sich Europa im Klein-klein eilfertiger Regelungswut. Es braucht einen Neustart der europäischen Idee“, sagt der Schweizer Publizist Frank A. Meyer. „Wir haben keinen Kapitalmarkt, darin sind uns die Amerikaner und Chinesen weit voraus. Es fehlt auch eine gemeinsame Innovationsstrategie, die technologieoffene Forschung zulässt. Auch die so wichtige Frage der Energiezukunft, wo es auch um Partnerschaften mit afrikanischen Staaten geht, muss europäisch gelöst werden“, bringt es auch der ehemalige Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl im Interview auf den Punkt.

Ursula von der Leyen
Ursula von der Leyen: Mehr Wettbewerbsfähigkeit und weniger Green Deal.

USA und China ziehen davon
Wie es derzeit um Europa steht, zeigt die geografische Verteilung der weltweit 100 größten börsennotierten Konzerne: Mittlerweile stammen 63 Unternehmen der Global Top 100 aus den USA. Mit Abstand folgt -China mit elf Unternehmen. Der Anteil Europas ist von 41 im Jahr 2000 auf aktuell 15 gesunken (davon kommen sieben aus den Nicht-EU-Ländern Schweiz und Großbritannien). Tech-Firmen aus den USA machen ein Viertel des globalen Aktienmarktes aus. Die sieben größten Technologieunternehmen Microsoft, Apple, Nvidia, Amazon, Alphabet, Meta und Tesla bedienen fast 30 Prozent des US-Kapitalmarkts. Letztes Jahr hat sich der gemeinsame Börsenwert der „Glorreichen Sieben“ verdoppelt. 2024 setzt sich das Wachstum dank des KI-Booms nahtlos fort. Allein die Nvidia-Aktie legte seit Jahresbeginn um weitere 80 Prozent zu. „Hat Europa endlich eine Antwort auf das Silicon Valley?“, fragt der britische „Economist“ und verweist dabei auf den kometenhaften Aufstieg des niederländischen Chipmaschinenherstellers ASML. Dessen Maschinen sind unentbehrlich für die Produktion hochmoderner Halbleiter, die in Smartphones zum Einsatz kommen. Der Marktwert des Unternehmens hat sich in den letzten fünf Jahren vervierfacht und ist mit 366 Mrd. Euro das wertvollste Technologieunternehmen Europas. Derzeit ist in den Niederlanden jedoch Feuer am Dach, nachdem im Jänner bekannt geworden ist, dass ASML über einen Wegzug nachdenkt. Der scheidende CEO Peter Wennink drückte sein Missfallen über die Migrationspolitik und das Ende von Steuervorteilen aus, mit denen Holland als Standort in der Vergangenheit punkten konnte. 40 Prozent der ASML-Mitarbeiter in den Niederlanden seien „Wissensmigranten“ und hoch ausgebildete Ingenieure aus aller Welt. Weil die Digitalisierung weltweit vorangetrieben wird, rechnet das Unternehmen mit einer Umsatzsteigerung von aktuell 28 Milliarden Euro auf bis zu 60 Milliarden Euro bis 2030. „Wir sind ein Weltkonzern – wir werden dorthin gehen, wo es nötig ist, um sicherzustellen, dass das Unternehmen wachsen und seine Kunden bedienen kann“, ­warnte Wennink. Die Regierung in Den Haag hat mit der Operation „Beethoven“ jetzt ein eigenes Standortsicherungsprogramm für ASML ins Leben gerufen.

Michael Strugl

Wenn wir die Industrie in Europa halten wollen, müssen wir jetzt die Infrastruktur für eine dekarbonisierte Industrie bauen.

Michael Strugl, CEO Verbund AG

Verlust industrieller Fertigung
Der drohende Abzug wichtiger Industrien hat die Politik aufgeschreckt. „Ohne wettbewerbsfähige -Energiepreise ist die energieintensive Industrie längerfristig in Österreich nicht zu halten“, teilt die Industriellenvereinigung Oberösterreich (IV OÖ) in Richtung Politik mit. Aktuell verliere die energieintensive Industrie in Deutschland und Österreich aufgrund der überdurchschnittlich hohen Energiepreise rasant an Wertschöpfung und Arbeitsplätzen an das Ausland. Man fragt sich, warum andere Länder in der EU wie Frankreich oder Spanien ihrer Industrie günstige Strompreise aus Atom- oder Windkraft zur Verfügung stellen können, „was in Österreich aus Wasserkraft nicht möglich ist“, kritisiert der IV-OÖ-Geschäftsführer Joachim Haindl-Grutsch. Er fordert noch in dieser Legislaturperiode Entlastungsmaßnahmen wie durch das Modell der Strompreiskompensation (SAG), das zielgenau stromintensive Industrieunternehmen im internationalen Wettbewerb vor der Abwanderung schützt. „Die Angst in Europa vor Deindustrialisierung ist berechtigt. Die aktuellen Veränderungen bei Energiepreisen, Inflation, Arbeitskräftemangel, gravierende Defizite bei der Digitalisierung von Arbeits- und Lebensbereichen und eine halbherzige, nicht ganzheitlich gedachte Transformation könnten zu einem massiven Verlust in der industriellen Fertigung führen“, warnt auch Hans-Dieter Pötsch, gebürtiger Linzer und mächtiger Aufsichtsrats-Chef der Volkswagen AG in Wolfsburg.

Europäische Energiepolitik
„Europas industrielle Basis muss im globalen Wettbewerb bestehen können, eine Deindustrialisierung gilt es um jeden Preis zu vermeiden. Wenn wir die Industrie in Europa halten wollen, müssen wir jetzt die Infrastruktur für eine dekarbonisierte Industrie bauen, die Energiewende ist dafür ein zentraler Baustein“, sagt auch Michael Strugl, CEO der Verbund AG. Weil das fossile Wirtschaftsmodell an seine Grenzen komme, „darf Energiepolitik deswegen nicht länger nationalstaatliche Aufgabe sein. Um wettbewerbsfähig zu bleiben und die Dekarbonisierung voranzutreiben, brauchen wir mehr Europa in der Energiepolitik, in der jeder Mitgliedsstaat seinen fairen Beitrag zur Energiewende leistet“, sagt Pötsch. Dass die Staatengemeinschaft Projekte dieser Art vorantreiben kann, zeigt der Critical Raw Material Act (CRMA) der EU-Kommission, mit dem sich Europa bei wichtigen Rohstoffen von Drittstaaten unabhängiger machen will. Auch andere kritische Bereiche wie die Energieversorgung können nur europäisch gelöst werden. So fordert etwa die deutsche Ökonomin und Mitglied der Wirtschaftsweisen Veronika Grimm, die Kraftwerksplanung europäisch zu koordinieren. Sie schlägt eine übergreifende Allianz für neue klimaschonende Kraftwerke vor, zu denen auch Gas- oder Kernkraftwerke zählen sollen. „Je schneller zugebaut werden kann, desto schneller sinken auch die Strompreise“, erklärt Grimm.

Willibald Cernko

Für weiteres Wachstum in Europa ist ein Kapitalmarkt nötig. Wir werden es ohne diese Privatmittel nicht schaffen.

Willibald Cernko, CEO Erste Group & Bankensprecher
Wirtschaftswachstum

Gemeinsamer Kapitalmarkt
Ähnliches gilt auch für den europäischen Kapitalmarkt. „Die Kapitalmarkt-union existiert schon seit Jahren am Papier. Aber für weiteres Wachstum in Europa ist ein gemeinsamer Kapitalmarkt nötig. Wir werden es ohne diese Privatmittel nicht schaffen“, sagte Willibald Cernko, CEO der Erste Bank, kürzlich bei der Präsentation der Bilanz 2023. Cernko, der auch Bankensprecher ist, meint vor allem den riesigen Kapitalbedarf für die Digitalisierung und den grünen Umbau der Wirtschaft. Nach den Europawahlen soll eine „Taskforce“ aus französischen Beamten einen Neustart des Projekts in Brüssel initiieren. Damit sollen der Kapitalmarktzugang für Unternehmen attraktiver und bessere Finanzierungsmöglichkeiten für Startups möglich werden. Obwohl die europäische Wirtschaft so groß ist wie die amerikanische, erreichen die Aktienmärkte nicht einmal die Hälfte und die Anleihemärkte nicht einmal ein Drittel der Größenordnung der USA. Dieser Gap muss kleiner werden.

more