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Digitale Meile - Sieben Stationen Zukunft

25.03.2024 um 08:04, Jürgen Philipp
min read
Zischen Tabakfabrik und Hafenportal liegt mit 110 IT-Unternehmen die wohl innovativste Meile Österreichs, die selbst das Silicon Valley in den Schatten stellt.

Wer in den Bus der Linie 72* am Linzer Hauptbahnhof einsteigt, der erlebt eine Reise in die Zukunft. Eine Buslinie, die in die Digitale Meile führt und die von den 110 Unternehmen mit ihren 3.500 Mitarbeitern mitinitiiert wurde. Sieben Stationen von der Tabakfabrik bis zum neuen Hafenportal. Sieben Stationen, die eindrucksvoll den Wandel der Stadt aufzeigen. In Europas einst größter Zigarettenfabrik rauchen die Köpfe digitaler Innovatoren. Im alten Schlachthof drehen Rotax-E-Carts im Schweinsgalopp ihre Runden und im Hafen kommen nicht nur Container aus aller Welt an, sondern von dort aus gehen digitale Produkte und Dienstleistungen in alle Welt.

Linzer IT-Weltmächte
An dem einen Meilenstein der DiMi, der Tabakfabrik, arbeitet Netural X an einer europäischen KI-Revolution, am anderen, im Hafenportal, wird fleißig umgezogen. Ein Unternehmen namens Apple bezieht dort ihre Büros. Apple!? Apple übernahm 2019 die Chipsparte von Intel in Linz und damit auch 280 hoch qualifizierte Forscher für hochfrequente Technologien in hochgeheimen Projekten. Aktuell sucht Apple Leute für seinen neuen Standort am anderen Donauufer, wie auf der Unternehmenshomepage ersichtlich ist. Ob der Apfel auch aktiv an der DiMi Community anbeißt, wird man in den nächsten Monaten sehen. Apple ist aber nicht der einzige Gigant in diesem österreichweit einmaligen IT-Universum. So wie der in Linz gegründete heutige Weltmarktführer für Software Intelligence und eines der global führenden Cloud-Software-Unternehmen, Dynatrace, etwa. Oder deren Nachbar, der weltweit führende Anbieter für globale Zoll- und Trade-Compliance-Softwarelösungen MIC. MIC baut aktuell ein neues, für 500 Mitarbeiter konzipiertes Headquarter in der Lederergasse. Die börsennotierte Kontron AG, Spezialist für Internet of Things und Embedded Computing, managt von ihrem Headquarter in der NEUEN WERFT aus ihre 6.000 Mitarbeiter auf allen Kontinenten. Giganten, die in der breiten Linzer Öffentlichkeit wenig bekannt sind. Arrivierten Tech-Unternehmen wie karriere.at oder bet-at-home kennt man hingegen. All diese Unternehmen sind nur ein paar Minuten Fußmarsch voneinander entfernt. Diese Mischkulanz bietet den perfekten Nährboden, der Start- und Scaleups zum Wachsen bringt und Hidden Champions gedeihen lässt.

Hafental
Das Hafenportal ist Ankerplatz eines Tech-Giganten. Apple forscht dort an neuer Hochfrequenztechnologie.

Hidden Champions
Ein solcher ist sermocore. Das von Andreas Köfler gegründete Unternehmen hat sich auf Software für elektronische Datenübertragung spezialisiert. sermocore beseitigt damit Schnittstellenthematiken zwischen verschiedenen IT-Systemen. „Es gibt viele Systeme, die nicht miteinander sprechen können. Dazu braucht es einen Übersetzer.“ Kunden wie ALPLA mit seinen 200 Werken auf allen Kontinenten oder der japanische Werkzeugkonzern Makita vertrauen darauf. Köfler kam 2014 nicht zufällig in das Tech-Center und damit in die geografische Mitte der DiMi. „Ich habe ganz bewusst den Austausch mit gleichartigen Firmen gesucht. Es gibt immer Nachbarn, die Partner werden oder auch Kunden und Lieferanten.“ Köfler stellt die DiMi sogar der Mutter aller Tech-Hotspots gegenüber: „Die DiMi ist ein wenig mit dem Silicon Valley vergleichbar, nur hat das keine Industrie vor der Haustüre. Das ist eine ganz große Chance für Linz und seine IT-Unternehmen.“ Statt an der Stanford University wird an der JKU, der FH Hagenberg und an der neuen IT:U geforscht. „Dazu gibt es die HTLs mit IT-Schwerpunkt. Je mehr Menschen am Standort ausgebildet werden, desto höher sind auch die Chancen, dass sie bleiben.“

3.500

Grenzenlos erfolgreich
sermocore als „Übersetzer“ für Schnittstellen steht fast sinnbildlich für den Geist der DiMi. Doch das war nicht immer so. Lange Zeit lebte man nebeneinander her, bis „Mr. Digital Mile“ Georg Spiesberger in Aktion trat. „2019 hörte ich rundherum von allen Firmen, dass ihnen die IT-Kräfte ausgehen. Es war klar, dass wir das Problem nur gemeinsam lösen könnten. Also lud ich alle Geschäftsführer ein und sie kamen. Mein Eingangsstatement war: Wir können uns die Köpfe einhauen oder gemeinsam etwas machen. Das war der Startschuss.“ Ein Startschuss der zu etwas wurde, das der Gründer von Mopius, Bernhard Aufreiter, so umreißt: „Die imaginären Grenzen sind verschwunden. Es gibt kein Kastldenken. Die DiMi ist wie eine Unternehmens-WG im Big Scale.“ Mopius hat sich auf Software für mobile digitale Geräte spezialisiert. Aufreiter startete sein Business noch während des Studiums an der FH Hagenberg und gründete im Keller seines Elternhauses. „Ich hatte keine Sparringspartner, also habe ich eine Community gesucht und gefunden. Man kocht damit nicht nur in seiner eigenen Suppe.“

sermocore
sermocore verbindet Schnittstellen von IT-Systemen. Die DiMi verbindet Unternehmensgrenzen, wie Gründer Andreas Köfler, Verena Duller und Ralf Vychdil meinen.

Brüssel wundert sich über Linz
Nach außen hin wird mit einer Stimme gesprochen. Eine Stimme mit dem Gewicht von 3.500 IT-Fachleuten, die sich bis nach Brüssel durchgesprochen hat. „Das am meisten diskutierteste Projekt war die Digital Mile, weil auch auf EU-Ebene keiner versteht, dass Firmen mit- und nicht gegeneinander arbeiten. Dabei ist es ganz einfach: Wenn ein Boxer den anderen umklammert, kann er nicht verletzt werden“, so Spiesberger. Und wie beim Boxen gibt es auch unter den Mitgliedern der DiMi klare Spielregeln. So ist es tabu, aktiv Mitarbeiter von anderen DiMi-Unternehmen abzuwerben. Das schafft Vertrauen und Offenheit. „Man hat uns immer gefragt, ob man keine Angst hat, dass Mitarbeiter der Cloudflight mit jenen von Dynatrace Fußball spielen?“ Eine unbegründete Angst. Die DiMi will dabei kein Verein sein, sondern versteht sich als Projektstruktur – Keep it simple, keep it fast. Den Kern bilden neun Unternehmen, die einen nach Unternehmensgröße gestaffelten Beitrag leisten. Ein Beitrag, der zahlreiche Initiativen anstößt, die auch von Land und Stadt gefördert werden – doch dazu später.

Ankick für Innovationen
Herwig Eichler, Geschäftsführer von iba Austria, einer 100-Prozent-Tochter der deutschen iba AG, versteht die Verwunderung auf EU-Ebene zum Teil. Eichler war früher in der Großindustrie tätig. „In der Industrie war der Austausch durch Compliance-Themen sehr dürftig. Der Mehrwert überschaubar. In der DiMi wird der Austausch gefördert und Mehrwert für alle erzielt.“ Heute sitzt Eichler mit seinem Team, das herstellerunabhängige Messsysteme entwickelt und implementiert, inmitten dieser DiMi. „Man kann unheimlich schnell Kontakte herstellen. Einer meiner Mitarbeiter ist leidenschaftlicher Volleyballspieler und hat die große Gabe, Netzwerke aufzubauen und Connections herzustellen.“ Volleyball und Fußball spielen die Unternehmen miteinander. Oft ist das der Aufschlag bzw. Anstoß zu wirtschaftlichen und vertrieblichen Synergien, wie bei iba Austria. „Wir haben etwa mit i-RED in fast unmittelbarer Nachbarschaft einen Hersteller von IT- Sensorik mit ähnlichen Kunden. Auch gibt es Synergien mit einigen Startups die sich mit neuen Sensorik- und Messlösungen sowie Datenanalyse beschäftigen.“ Und wieder punktet Linz besonders. Viele große Kunden befinden sich nur einige Kilometer weiter im Industriegebiet. Kleinere, flexible Unternehmen treffen auf die großen industriellen Flaggschiffe, Hardware auf Software.

Bernhard Aufreiter

Die imaginären Grenzen sind verschwunden. Es gibt kein Kastldenken. Die DiMi ist wie eine Unternehmens-WG im Big Scale.

Bernhard Aufreiter, Geschäftsführer Mopius

Aktive Nachwuchsarbeit
Die DiMi löst Probleme, die alle Unternehmen haben und die kaum einer alleine stemmen kann. Dafür wird unter anderem der bereits erwähnte gemeinschaftliche Beitrag eingesetzt. Probleme analoger Natur, etwa Deutschkurse für Expats oder die Kinderbetreuung im Sommer. Was mit 84 Kindern im ersten Durchgang begann, ist heuer schon auf 180 Kinder angewachsen. Kinder, die nicht einfach nur betreut werden, sondern denen auch die Freude an der IT und damit der Job von Mama und Papa vermittelt wird. In einem Pilotprojekt wurde erstmals LEGO® Robotics ins Programm genommen. „Das ist so gut gelaufen, dass in 18 Stunden der Kurs voll war“, so Spiesberger. Kinderbetreuung, die auf spielerische Weise auch MINT-Fächer vermittelt. Und dabei soll es nicht bleiben. Die DiMi will das Robotics-Programm in Linzer Schulen tragen. „Schulen sind beim Thema Digitalisierung oft überfordert. Sie wissen manchmal nicht, welche Inhalte sie vermitteln sollen. Diese bekommen sie nun von uns. Unsere Kinder brauchen IT- und Medienkompetenz.“ Und die ist in der DiMi so geballt wie kaum sonst wo in Österreich. Die Sieger des Linzweiten Robotics-Programms dürfen zur nationalen Ausscheidung und die Bundessieger im türkischen Izmir gegen die Weltelite antreten. „Das hat auch Effekte auf die Community und die Bindung.“

1,48

Europäisches OpenAI aus Linz?
Ebenso wie der karitative Gedanke. Schon jetzt wird viel gespendet. Spendengelder, die mit der gemeinsam betriebenen DiMi Bar bei den Bubble Days oder mit dem mobilen Punschstand lukriert werden. Spenden, die Menschen mit Beeinträchtigung zugutekommen. Und das soll erst der Anfang sein. „Wir überlegen innerhalb der DiMi immer, wie wir anderen Menschen helfen können“, meint Irene Bouchal, Leiterin HR bei Netural. Netural ermöglicht neue digitale Services und brachte einstige Startups wie das Content-Management-System Storyblok oder das Raumplanungs-Tool Roomle ins Laufen. Man versteht sich als „digitaler Nährboden“. Und auf diesem fruchtbaren Boden soll nun ein echter „Big Bang“ erblühen. Das Tochterunternehmen Netural X will gemeinsam mit Pierer Digital und der JKU unter Führung von KI-Guru Sepp Hochreiter mit NXAI die europäische Antwort auf OpenAI geben. Ein Large-Language-Modell als Basis für KI-Technologien „made in Europe“.

Quadrill
Mit dem Leuchtturmprojekt "Quadrill" bei der Tabakfabrik werden bis 2025 weitere 18.000 m² Platz für spannende (IT-)Unternehmen geschaffen.

Innovationsmaschine
Große Visionen, wie sie auch Georg Spiesberger hat. Er will mit der DiMi nichts mehr und nichts weniger, als die Welt ein Stückchen besser machen. „Wir sind 3.500 gut vernetzte Menschen. Wenn einer sagt, ich habe eine Idee, dann finden wir unter den 3.500 diejenigen, die auch die Kompetenz zur Umsetzung haben. Ideen, welche die Welt besser machen. Das wäre eine geile Sache.“ Natürlich bleibt Spiesberger realistisch. „Man wird vielleicht nicht alle 3.500 dazu bringen, sich ehrenamtlich zu engagieren, aber wenn nur 5 bis 10 Prozent das tun, reicht das bereits.“ Engagement, das schon heute mit dem „Digital Smile“ belohnt wird, einem eigenen Logo, das für soziales Engagement steht. Andreas Köfler von sermocore sieht die große Vision durchaus realistisch: „Egal welches Thema man gerade hat, man trifft sich und tauscht sich aus. Ganz typisch ist dann der Satz: Hast du schon mal mit dem oder dem geredet? Das ist die immer optimistische und positive Grundstimmung der DiMi.“

Von zwei auf 1.000 Mitarbeiter
Maria Kolanek von Cloudflight kennt den Geist der gegenseitigen Unterstützung aus dem eigenen Unternehmen. Ursprünglich als catalysts und Two-Men-Show gegründet, ist Cloudflight mittlerweile durch Zukäufe auf 1.000 Mitarbeiter an mehreren Standorten in Europa gewachsen. Digitale Transformation der Industrie, Cloud-Services oder KI und Datenmanagement sind Tätigkeitsfelder des Linzer IT-Riesen. „Wir arbeiten länderübergreifend in Cross Functional Teams zusammen.“ Teams, in denen die Kompetenzen so zusammengestellt sind, wie es das jeweilige Projekt verlangt. Cloudflight lebt Spiesbergers Vision bereits. Und diese soll nachhaltig werden, wie Margit Klima-Ben- cic, HR-Direktorin bei MIC, erzählt: „Nicht nur wir als MIC – wir wollen bis 2040 CO2-neutral werden –, sondern in der gesamten DiMi soll das Thema stärker aufgegriffen werden. IT spielt dabei eine Schlüsselrolle in der Zukunft.“ So wie es die KI tut. „Da gibt es auch einige kritische Entwicklungen. KI ist aber eine große Chance, wenn man sie richtig anwendet. Wir sollten als DiMi mit gutem Beispiel vorangehen und Maßstäbe setzen.“

Herwig Eichler

In der Industrie war der Austausch durch Compliance-Themen sehr dürftig. Der Mehrwert überschaubar. In der DiMi wird der Austausch gefördert und Mehrwert für alle erzielt.

Herwig Eichler, Geschäftsführer iba Austria
Dynatrace
Der Weltmarktführer für Software Intelligence, Dynatrace, baut in seiner "Geburtsstadt" kräftig aus. 2025 soll Platz für 1.500 Mitarbeiter sein.

Wirtschaft und Wissenschaft
Neue Maßstäbe werden auch in der Personalentwicklung gesetzt. Vor allem den kleinen Unternehmen der DiMi fehlen dafür die Ressourcen. Deshalb hat man ein eigenes Programm erarbeitet. In vier Modulen mit je zehn Führungskräften verbindet man Wissenschaft mit Wirtschaft. Die Hälfte der Plätze ist nämlich für die FH OÖ reserviert. Ein Programm, das wie alle anderen HR-Faktoren der DiMi ausgezeichnet wurde. Die DiMi gewann den „HRBert“ als innovativstes HR-Projekt in OÖ. Und selbst vor der großen Politik schreckt das Netzwerk nicht zurück. Wann immer politische Themen aufpoppen, wird der Finger in die Wunde gelegt. „Die politische Schlagkraft ist größer und die Politik ist daran interessiert, dass wir bei der Digitalisierung Innovationstreiber sind“, so Herwig Eichler. Diese Schlagkraft zeigt sich bei Buslinien, geht über Blutspenden – nicht deutschsprachige Menschen dürfen das nicht – und endet in der Diplomatie. „Aktuell hat Belarus die Aufenthaltsgenehmigung seiner Staatsbürger im Ausland verschärft“, so Spiesberger. Statt wie bisher über die Botschaft zu verlängern, müssen sie nun nach Belarus. Viele haben Angst, nicht mehr zurückkehren zu dürfen. „Also habe ich mich im Namen der DiMi ans Außenministerium gewandt.“ Themen, die durch konkrete Fälle ins Rampenlicht geraten. Weißrussen, welche mit der Rot-Weiß-Rot-Karte in Österreich (noch) arbeiten dürfen. Auch dieses Instruments nahm sich die DiMi an. „Die Rot-Weiß-Rot-Karte funktioniert nicht so schlecht. Man muss allerdings im HR-Bereich gut aufgestellt sein, um die Leute zu servicieren“, gibt Margit Klima-Bencic zu bedenken. Kleinere Unternehmen profitieren daher von den Expat-Erfahrungen der Großen. Expats, die schon bald mehr werden könnten, wenn sie dem Ruf Apples nach Linz folgen. Auch wenn dieser Apfel weit weg von seinem Stamm ist, wird die Forschung der US-Amerikaner in Linz weiterhin viele Früchte tragen, so wie es bei allen Unternehmen
innerhalb dieser 1,8 Kilometer und sieben Busstationen langen Strecke der Fall ist.

 

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