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E-Mental Health
Wer akut bezahlbare psychotherapeutische Hilfe benötigt, muss bis zu einem Jahr warten. E-Mental-Health kann da wichtige erste Hilfestellung leisten.
Wer akut bezahlbare psychotherapeutische Hilfe benötigt, muss bis zu einem Jahr warten. E-Mental-Health kann da wichtige erste Hilfestellung leisten.
Getty Images

Der Digi-Sigi hätte seine Freud(e)

11.05.2022 um 09:45, Verena Schwarzinger
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Der psychische Druck steigt sprunghaft an. Ein perfekter Nährboden für Suchterkrankungen. Psychotherapeuten sind restlos ausgebucht. Ein Lösungsansatz sind E-Mental-Health-Tools, die Therapien begleiten, aber auch ersetzen können. Ein spannendes Tätigkeitsfeld für Healthcare-Startups.

Es war eine Meldung, die schockierte: Triage in der Jugendpsychiatrie. Eine Meldung, welche die psychischen Auswirkungen der Pandemie sichtbar machte. Nicht nur unter Kindern und Jugendlichen: Die Zahl der Erwachsenen, die unter chronischer Schlaflosigkeit leiden,verdoppelte sich, die Isolation ließ das Viertel der Österreicher, die gerne täglich zum Vierterl, Halben & Co. greifen, noch mehr Alkohol trinken. Erstmals seit Jahren stieg die Zahl der Raucher ab 14 Jahren, dazu nahmen Spiel- und Internetsucht deutlich zu. Dramatisch auch der Anstieg von depressiven Symptomen. Und selbst Klienten, die bereits in psychotherapeutischer Behandlung stehen, berichten über Verschlimmerung ihrer Symptome. Die Donau Universität Krems befragte 1.500 Psychotherapeuten, die dies bei 70 Prozent ihrer Klienten bestätigten. Sogar bereits überwunden scheinende Traumata brachen wieder auf.

Ein Jahr Wartezeit?!?

Therapie, die oft nur via Teletherapie möglich war. Eine Behandlungsform, die vor der Pandemie verboten war, mittels einer Internetrichtlinie des Gesundheitsministeriums zumindest Face-to-Face über elektronische Mittel ermöglicht wurde. Doch auch das behebt den Mangel an freien, von den Krankenkassen bezahlten Therapieplätzen nicht. Bis zu einem Jahr Wartezeit müssen potenzielle Klienten in Kauf nehmen. Um dem gestiegenen Bedarf an therapeutischer Arbeit gerecht zu werden, erleben E-Mental-Health-Angebote einen nie dagewesenen Auftrieb. Unter E-Mental-Health versteht man digitale Tools, die als unterschwellige Angebote funktionieren, Apps, Programme oder digitale Helferlein, die schon seit vielen Jahren von Startups, aber auch von psychotherapeutischen Institutionen oder Organisationen entwickelt werden. Digitale E-Mental-Health-Tools sind Medizinprodukte und werden seit Jahren hoch erfolgreich in der Suchttherapie eingesetzt. „Das Institut für Suchtprävention der Sucht- und Drogenkoordination Wien hat schon 2016 damit begonnen. Die Überlegung war, mit einem niederschwelligen Zugang mehr Leute zu erreichen“, erzählt E-Mental-Health-Expertin Doris Malischnig. Erste Angebote gab es bereits Anfang der 2000er-Jahre.

Wie ein Startup zur Lösung

Malischnig und ihr Team gingen dabei wie ein Startup vor.  „Wir erkannten, dass es schon damals viele Menschen, die im Internet nach Konsumreduktion gesucht haben, sich als Österreicher bei Angeboten in Deutschland nicht registrieren konnten. Zweitens wollten wir junge Menschen erreichen, die risikoreich konsumierten. Wir haben daher ein Serious Game entwickelt. Das wurde an Schulen und mit diversen Feedbackschleifen evaluiert.“ Aktuell sucht man nach einem Sponsor, damit das Tool kostenlos und vor allem anonym zur Verfügung gestellt werden kann. Schließlich setze man auf audiovisuelle Inhalte wie auf die Integration von Videos in die Apps bzw. das Etablieren von Podcasts wie RAUSCHZEIT und DONNERWETTER-SUCHT.

Selber Effekt?

Tools, die nicht nur den Apparat entlasten helfen, sondern deren Wirkung mehrfach bestätigt wurde, helfen niederschwellig. Tools, die unter dem Fachbegriff Blended Care auch mit realen Therapeuten kombiniert werden können. „In Deutschland gibt es bereits ein Framework für Digitale Gesundheitsanwendungen (DIGAs). DIGAs sind immer vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geprüft und der Arzt kann das E-Mental-Health-Produkt verschreiben. So werden alle juristischen Notwendigkeiten eingehalten.“ Besonders im Visier sind junge Menschen, so setzt die Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik auf diese neuen Ansätze. Klinikleiter Paul Plener kann auf besonders gute Erfolge bei Menschen mit Computer- und Internetsucht verweisen.

Hinter Süchten steht mehr

Damit löst man gleich mehrere Probleme, denn Malischnig verweist darauf, dass „Suchterkrankungen meist von weiteren psychischen Erkrankungen begleitet werden“. Der erfolgreiche Einsatz dieser Tools reduziert damit auch Symptome anderer psychischer Erkrankungen wie Depressionen, Ängste oder ADHS. Zusätzlich wird auf das „Motivational Interviewing“ gesetzt, bei dem man im Hintergrund immer die Motivationslage des Gegenübers im Fokus hat.

Virtueller Therapeut

Malischnig verweist auf recht unterschiedliche Zugänge zum Thema, die in den letzten Jahren beforscht wurden. „Manche digitale Angebote sind nur technologiebasiert, wie mit einem E-Coach. So gibt es bei alkcoach.at oder auch CANreduce.at Statements von Personen, die erzählen, wie sie zum Beispiel mit Rückfällen umgegangen sind oder was sie motiviert hat, den Konsum zu reduzieren. Bei dem Angebot genuggespielt. at zur Reduktion des Glücksspielverhaltens begleiten den Anwender auch zusätzlich Videos von einem Betroffenen durch das Programm.“ Idealerweise erreicht man Betroffene, bevor der Kontrollverlust eintritt. Und idealerweise wird an der Entwicklung digitaler E-Mental- Health-Tools intensiv weitergeforscht, denn sie bieten trotz akutem Therapeutenengpass in vielen Fällen wichtige Hilfestellung.

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