Arbeiten, wo andere Urlaub machen
Wenn Marcel Kirchhoff (35) ins Wochenende startet, wirkt das für ihn wie ein Kurzurlaub. Der leidenschaftliche Trailrunner stammt eigentlich aus Nordrhein-Westfalen, arbeitet aber seit Sommer letzten Jahres bei Lidl Österreich in Salzburg. Kirchhoff, der bei dem Handelsriesen als Senior Consultant Recruiting individuelle Karrieren verantwortet, ist überzeugt: „Wer arbeitet, benötigt in irgendeiner Form einen Ausgleich.“ Diesen Ausgleich findet er in seinem Gastland Österreich. Doch Kirchhoff, der zuvor über vier Jahre bei Lidl in Deutschland gearbeitet hatte, kommt nicht nur als Trailrunner auf seine Kosten: „Österreich bietet zahlreiche Freizeitmöglichkeiten – und das über das gesamte Jahr hinweg.“
Zahl der Deutschen steigt kontinuierlich
So wie er denken viele seiner Landsleute, die sich bewusst für ein neues Leben in Rot-Weiß-Rot entschieden haben. Auch bei Lidl Österreich, einer 100-prozentigen Tochtergesellschaft des deutschen Discounters mit Hauptsitz in Baden-Württemberg, ist Kirchhoff mitnichten eine Rarität: „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Deutschland finden sich in nahezu allen Bereichen“, verrät Consultant Christoph Buchgraber, der seit über sechs Jahren in der Unternehmenskommunikation von Lidl Österreich arbeitet. Im österreichischen Team Lidl liege der Anteil von Deutschen an der Belegschaft aktuell bei knapp 6 Prozent. „Dieser Anteil ist in den letzten Jahren relativ konstant geblieben“, sagt Buchgraber und fügt hinzu, dass der Anteil bei den Büroarbeitsplätzen am höchsten sei: „Hier liegt er bei 15 Prozent.“ Wie repräsentativ dieser Anteil von deutschen Arbeitskräften an der Belegschaft ist, lässt sich schwer sagen. Klar ist: Die Anzahl der Deutschen in Österreich ist laut Statista, einer deutschen Onlineplattform, die auch Daten aus Wirtschaft und amtlicher Statistik zugänglich macht, von 2013 bis Anfang 2023 von knapp 158.000 auf rund 225.000 kontinuierlich gestiegen. Gesichert ist den Zahlen nach auch, dass die Deutschen in Österreich schon seit vielen Jahren vor den Rumänen, Serben und Türken die mit Abstand größte Ausländergruppe unter den zehn wichtigsten Staatsangehörigkeiten bilden.
Pragmatische Willkommenskultur
Nach Angaben von Christian Hener, Jahrgang 1969, Managing Partner der internationalen Personalberatung EO Executives, die durch ein starkes deutsches Partnernetzwerk auch Führungs- kräfte von Deutschland nach Österreich vermittelt, ist das für die meisten Österreicher kein Problem: „Die Deutschen sind hierzulande willkommen.“ Von einer Deutschfeindlichkeit bekomme er nichts mit. Im Gegenteil: „Immer neue Höchststände von Deutschen im Lande bedeuten auch frische Führungskräfte für den heimischen Arbeitsmarkt, dem es genau daran derzeit akut mangelt.“ Da sei es von Vorteil, „dass sich viele Deutsche in Österreich ausgesprochen wohlfühlen“. Zumal sie oft beschließen, dauerhaft im Land zu bleiben. Das beob-achte er auch bei den deutschen Mana-gern, die EO Executives für Österreich recruitet. Das zeige sich auch daran, „dass zum Beispiel ein CFO, den wir im letzten Jahr vermittelten, nach einer relativ kurzen Zeit seine Familie nachholte, was kein Einzelfall war“. Wie zufrieden die deutschen Führungskräfte in ihrer neuen Heimat sind, offenbare auch das Feedback, das die zuständigen Berater einholen: „Nach Ablauf des üblicherweise einjährigen Mentorings der Kandidaten zeigt sich, dass ein Gros der deutschen Manager sich nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch im Land Österreich angekommen fühlt.“
Bis zu 20 Prozent weniger Gehalt bei Führungskräften
Obwohl Österreich – anders als bespielsweise die Schweiz – Führungskräfte nicht gerade mit hohen Gehältern locke: „Wer als Führungskraft von Deutschland nach Österreich geht, und zwar nicht als Expatriate, sondern als angestellte Führungskraft mit österreichischer Sozialversicherung, kann in der Regel kein höheres Gehalt erwarten.“ Viele Manager müssten sogar weniger Gehalt in Kauf nehmen, „in einigen Fällen bis zu 20 Prozent“. Zum Teil ausgeglichen werde dies durch geringere Lebenshaltungskosten, selbst wenn in einigen Lebensbereichen, wie zum Beispiel bei Lebensmitteln, höhere Preise spürbar seien. „Solche Ausnahmen sind aber kein Hinderungsgrund für eine Führungskraft, weil sie bei dem Gehalt einer Führungskraft nicht wirklich zu Buche schlagen.“ Zumal viele Kandidaten ohnehin die Meinung vertreten, „dass der hohe Zugewinn an Freizeitmöglichkeiten, die tolle Landschaft und das Urlaubsfeeling, das sie in Österreich empfinden, materielle Nachteile mehr als kompensiert“.
Chancen in der Kunst genützt
Was Hener beschreibt, dürfte den gebürtigen Nordrhein-Westfalen Peter Ender, 64, nicht weiter überraschen. Ender, der ursprünglich aus Duisburg stammt und sich an der renommierten Münchner Schauspielschule Otto-Falckenberg zum Schauspieler ausbilden ließ, war 2007 nach Österreich gezogen, nachdem er zum Leiter der Schauspielabteilung der Musik und Kunst Privatuniversität Wien (MUK) ernannt worden war. Eine Berufung, über die er bis heute froh ist. Denn die Jahre in Wien seien fantastisch gewesen, sagt der Theaterexperte, der parallel zu seiner Lehrtätigkeit an der heutigen Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien auch weiter als Film-, Fernseh- und Theaterschauspieler brillierte. Trotzdem wechselte er nach fünf Jahren an die Zürcher Hochschule der Künste. Dort wurde Ender zunächst Leiter des Master Schauspiel, um mit dem Antritt seiner Professur 2014 zusätzlich die Leitung des Bachelor Schauspiel zu übernehmen. „Das war damals eine große berufliche Chance“, sagt Ender und betont, „dass ich ohne diese besondere Herausforderung, bei der ich viel Neu- es gestalten konnte, niemals aus Österreich weggegangen wäre“. Und das habe eine ganze Reihe von Gründen. „Zum einen befand sich mein früherer österreichischer Arbeitgeber in einer Stadt, die man nicht nur als Theater-affin, sondern als Eldorado für Künstlerinnen und Künstler bezeichnen kann.“
Ein „Nein“ in Österreich ist oft ein „Ja“
Mindestens ebenso wichtig sei für ihn aber auch gewesen, „dass die Österreicher nicht nur eine sehr klangvolle Sprache, sondern auch eine äußerst liebenswerte Mentalität haben“. Auch das habe dazu geführt, „dass es mir praktisch jeden Tag aufs Neue Freude machte, in diesem Land zu arbeiten“. Zudem habe er in Österreich erfahren, was es heiße, „wenn ein Nein das Tor zum Ja ist“. Konkret meine er damit „die Eigenart vieler Österreicher, bei Vorschlägen zunächst zurückhaltend zu reagieren, um dann doch hurtig einen kreativen Weg mitzugehen“. Im Vordergrund stehe dabei „nicht der graue Kompromiss, sondern die Frage, wie sich mit einer konstruktiven Lösung in kurzer Zeit und möglichst unkompliziert etwas Gutes realisieren lässt“. Das sei eine ausgesprochen positive Denkweise, die erfreulicherweise auch noch „mit viel Schmäh und flachen Hierarchien im Kopf “ einhergehe. Wobei er gerne einräume, in seinen Wiener Jahren nicht nur ewig gut gelaunte Österreicher kennengelernt zu haben und „natürlich auch solche, die ihren Titel gerne vor sich hertragen“.
Typisch deutsche „Missverständnisse“
Enders Worte kennt Personalberater Hener gut. Es gebe viele Deutsche, „die das so wahrnehmen und wiedergeben“. Für einen Österreicher sei das schön zu hören und „sicherlich auch überwiegend richtig“. Allerdings berge diese Wahrnehmung auch Risiken. So werde die vermeintliche Gelassenheit vieler Österreicher, „die sich auch in ihrem Wording widerspiegelt“, von einigen Deutschen bisweilen falsch interpretiert. Denn nur weil die Österreicher „weniger schroff reagieren und formulieren“, seien sie keineswegs verweichlicht. „Es gibt deutsche Manager, die das anfangs denken und daraus irrtümlich ableiten, dass sie sich schon durchgesetzt hätten.“ Mit der Zeit würden sie dann verstehen, „dass mehr sprachliche Höflichkeit nicht als Schwäche zu interpretieren ist“. Seien derlei anfängliche Missverständnisse, die es insbesondere in der Einarbeitungsphase gebe, erst mal ausgeräumt, zeige sich schnell, „dass sich Deutsche und Österreicher in der Arbeitswelt perfekt ergänzen“.
EU-Mitgliedschaft als Vorteil
Weshalb es für die Österreicher auch tendenziell gut sei, dass die Rezession in Deutschland anhält: „Solange die Dinge in Deutschland eher schlecht laufen, wird ein gewisser Anteil an deutschen Fachkräften weiter sein Glück im Ausland suchen.“ Österreich als beliebtes Zielland profitiere dabei nicht nur wegen der Freizügigkeit in der Europäischen Union, „sondern auch von dem Vorteil der gemeinsamen Sprache“. Diesen Vorteil habe die Schweiz in ihren deutschsprachigen Kantonen zwar auch, „Es wird ihr aber dennoch nicht gelingen, auf der Beliebtheitsskala mit Österreich zu konkurrieren.“ Das sieht Schauspieler Ender genauso: „Man kann in der Schweiz wunderbar leben, zumal die Landschaft dort noch schöner und noch imposanter ist.“ Trotzdem wolle er seinen Lebensabend lieber in Österreich verbringen. Denn hier habe er sich schon nach wenigen Jahren daheim gefühlt. „Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es vielen meiner Landsleute in Österreich ähnlich geht.“