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TikTok - die Suchtmaschine
Kein anderes soziales Netzwerk lernt seinen User schneller kennen. Bereits nach wenigen Minuten kennt der Algorithmus das individuelle Nutzerverhalten.
Kein anderes soziales Netzwerk lernt seinen User schneller kennen. Bereits nach wenigen Minuten kennt der Algorithmus das individuelle Nutzerverhalten.
Pheelings Media / iStock / Getty Images Plus

TikTok: Die Suchtmaschine

25.11.2022 um 11:57, Jürgen Philipp
min read
Sie ist die schnellste, bunteste und erfolgreichste App der Welt: In nur sechs Jahren hat es TikTok zur Nummer eins geschafft. Wie können Unternehmen vom Hype rund um die Videoplattform profitieren?

Es ist eine Ironie des Schicksals. Der CEO und Gründer von ByteDance, der Inhaberkonzern von TikTok, Zhang Yiming, arbeitete unter anderem für Microsoft. Und er verließ Microsoft, weil er sich von den Unternehmensregeln des US-Konzerns zu eingeengt fühlte. Vor zehn Jahren gründete er ByteDance und hat neben klassischen Positionen CEO, CTO, CFO auch einen Vizepräsidenten und Stellvertreter namens Zhang Fuping im Unternehmen. Der ist aber keine herkömmliche Führungskraft, sondern Parteikomi-tee-Sekretär der chinesischen KP. Großen chinesischen Unternehmen wird eine solche „Kraft“ beiseitegestellt, die darauf schaut, dass auch die strategische Partnerschaft mit dem Ministerium für Öffentliche Sicherheit gewährleistet wird. Wie eng die Unternehmensregeln da wohl sind? Weit genug jedenfalls, um die erfolgreichste App der Welt ihren Siegeszug rund um den Globus antreten zu lassen.

Chinesische Kulturrevolution 2.0.

Der Wert von TikTok wird mit über 300 Milliarden Dollar beziffert – im Vergleich: Die Einnahmen des österreichischen Staates 2021 betrugen rund 200 Milliarden Euro. Und das nicht nur wegen hoher Userzahlen allein, sondern vor allem wegen einem: TikTok ist mittlerweile der Motor der globalen Pop- und Jugendkultur. Eine Art chinesische Kulturrevolution 2.0. Eine Revolution, deren Auswirkungen man schon spürt. So führt unter anderem der US-Streamingdienst Netflix seinen Abonnentenschwund nicht zuletzt auf TikTok zurück. „TikTok ist unheimlich business-driven“, erzählt Adil Sbai, Gründer von WeCreate, der ersten TikTok-Agentur im deutschsprachigen Raum. Mit anderen Worten: TikTok greift disruptiv durch und ist sehr nahe am User bzw. am Content-Creator. TikTok versteht wie kaum eine andere App seine Nutzer. So greift es nun frontal den Musikstreamingmarkt an: Spotify und Co sind gewarnt und versuchen, ihrerseits in den sozialen Netzwerken zu punkten. Die chi-nesische App könnte also eine ganz neue Form von Musikproduktion populär machen, schneller, bunter, jünger. Und TikTok entlohnt seine Creators deutlich großzügiger. Während junge Musiker bei Spotify oder YouTube mit Centbeträgen abgespeist werden, kann man mit TikTok reich werden. Die reichste TikTokerin ist die heute 18-jährige Charli D’Amelio, die mit ihren Tanzvideos 17,5 Millionen Dollar verdiente.
 

TikTok-Gründer Zhang Yiming
Go bigger. Be better – das  Motto von ByteDance und deren Gründer Zhang Yiming, der aus zwei Apps TikTok formte.

Wird TikTok zum Netflix- und Spotify-Killer?

TikTok nutzt ganz geschickt die Schwächen anderer sozialer Netzwerke und Plattformen aus. Während Facebook, YouTube oder Instagram auf Status basieren, sprich je mehr Follower ich habe, desto relevanter bin ich, blendet TikTok das komplett aus und geht rein auf den Content. Man kann also mit dem ersten Video viral gehen und Millionen von Clicks generieren. Das hat Folgen. Der Schlagerstar Michael Wendler zerstörte so innerhalb von Sekunden seine Karriere. Ein unbedachtes Video, ein Verriss bei TikTok – aus die Maus. Und TikTok wird mit diesem Speed auch zur Fake-Maschine, denn User können völlig anonym Dinge in die Welt setzen. Auch wenn die App nach eigenen Angaben 96 Prozent aller Inhalte, die gegen die Communityregeln verstoßen, löscht, bevor sie veröffentlicht werden, und das schneller als alle anderen Netzwerke. Dennoch kann beim „Durchrutschen“ sol-cher Inhalte die rasante Verbreitung kaum eingefangen werden, wenn das Video zeitverzögert gelöscht wird. Es könnte sich schon millionenfach verbreitet haben, auch auf andere Plattformen und Messenger-Diensten. Das ist der USP von TikTok, der Algorith-mus ist unheimlich schnell. Die Verbreitung von Fake News ist aber kein TikTok-spezifisches Problem. Der aus der analogen Medienwelt übernommene Slogan „Bad News are good News“ ist auch für Soziale Netzwerke ein Clickgarant. Fake News oder vermeintliche Aufreger, Skandale und Co erregen eben mehr Aufsehen und generieren so potenzielle Viralität.
 

Schattenseiten der Suchtmaschine

Doch das ist nicht der einzige Kritikpunkt. Die lange populären Challenges, bei denen Kids waghalsige Stunts zeigten, führten zu tödlichen Unfällen. Auch Psychologen warnen vor dem Suchtpotenzial. Die ständige Reizüberflutung durch immer schnellere, buntere, lautere und kürzere Inhalte kann zu Konzentrationsschwächen und ADHS führen. Der fast gänzliche Verzicht auf ge-schriebene Texte wirkt sich auf den messbaren Anstieg von sekundärem Analphabetismus aus. Immer weniger Kids können Texte sinnerfassend lesen – quer durch alle Bildungs- und gesellschaftlichen Schichten. Auch Sbai erkennt das Problem, gibt aber zu bedenken, dass „das kein TikTok-Spezifikum ist. Das gab es auch schon beim linearen TV, allerdings wird ein TV-Programm kuratiert. TikTok und andere Plattformen beschleunigen nochmals qualitativ und quantitativ. Vielleicht braucht es hier stärkere Reglementierung.“ Eine Reglementierung, wie sie ausgerechnet der chinesische Staat eingeführt hat. China hat etwa Gamingunternehmen wie Tencent dazu verpflichtet, die Spielzeit pro Kind auf drei Stunden pro Woche zu begrenzen. „Das ist zwar eine gesellschaftliche Einschränkung, aber es ist ja auch eine Einschränkung, sich im Auto anzuschnallen, und das macht gesellschaftlich natürlich Sinn.“ Und dann bleibt noch die politische Dimension, die sogar zu einem Streit mit Donald Trump führte. TikTok-User stellten den Ex-Präsidenten bloß. Sie orderten unzählige Platzkarten für einen seiner Wahlkampfauftritte und ließen die Plätze leer. Damit zogen sie den Zorn Trumps auf sich. Trump forderte einen Besitzerwechsel von TikTok bzw. den Verkauf an ein US-Unternehmen, ansonsten würde er es in den USA verbieten. Die Macht der TikTok-süchtigen US-Jugend hätte Trump wohl aber unterschätzt. Auch wenn es Trumps Ego war, das eine stärkere Kontrolle der App forderte, allein steht er damit nicht. 
 

Charli und Dixie D’Amelio
Charli und Dixie D’Amelio sind TikTok-Stars. Die 18-jährige Charli verdiente mit ihren Videos 17,5 Millionen US-Dollar.

Wird die enorme Macht missbraucht?

So zensierte TikTok Videos über die Freiheitsbewegung in Hongkong, filtert Videos über Taiwan und indexierte sogar Begriffe wie „LGBTQ“ oder „Homosexualität“. Andererseits ist TikTok eines der wichtigsten Tools der iranischen Frauen im Kampf gegen das Mullah-Regime. Eine Macht, die abnehmen könnte, und zwar dann – wie bereits bei Facebook vorexerziert –, wenn die ältere Ge-neration TikTok entdeckt. Dann könnten neue Apps in welcher Form auch immer die Evolution der sozialen Netzwerke vorantrei-ben. Wie diese aussehen wird, weiß noch niemand. Experten gehen aber davon aus, dass die nächste Generation sich vom Device Smartphone gelöst haben wird. Noch ist es aber ein äußerst mächtiges Instrument, und das wird auch den Vizepräsidenten von TikTok, den Parteikomitee-Sekretär Zhang Fuping, freuen. 
 

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