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Nichts im Kopf? Warum wir immer weniger wissen

15.09.2014 um 10:35, A B
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Mehr als eine Million Österreicher können nicht sinnerfassend lesen. Die Zahl derer, die nicht einmal eine rudimentäre Allgemeinbildung haben, ist wahrscheinlich
noch höher. Warum wissen wir immer weniger?

Polen liegt in Russland. Der Bundestag ist ein Feiertag. Ein „eagle“ ist ein Igel. Und der Dax? Ist natürlich auch ein Tier. Nein, das ist kein Witz, diese Antworten sind durchaus ernst gemeint – von österreichischen Schülern, die kurz vor dem Abschluss ihrer Schulkarriere stehen.

Generation Blöd?

Nicht nur der PISA-Test führt uns vor Augen, wie sehr die Leistungen an den heimischen Schulen nach unten gehen. Mindestens genauso dramatisch, aber weniger bekannt ist, dass auch der durchschnittliche IQ seit den 80ern abnimmt – um zwei Punkte pro Jahr, wie die Universität Erlangen herausgefunden hat. Bei einer Generation, die mit Austria’s Next Topmodel, Big Brother oder Richter Alexander Hold im Fernsehen aufwächst, verwundert es zudem kaum, dass die Kids als Berufswunsch nicht mehr Pilot oder Arzt nennen, sondern Castingstar oder Supermodel.

Je banaler, desto besser

Ausbildungsdefizite mögen eine Sache sein – aber auch bei den älteren Semestern schaut es nicht besser aus. Schlauer macht das ständige Schielen auf den Fernseher auch dann nicht: Übermäßiger TV-Konsum macht dick, dumm und krank – das fand das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen heraus. Im Schnitt verbringt jeder Österreicher zwei Stunden pro Tag vor dem Fernseher. Um Bücher zu ­lesen, werden pro Tag fünf Minuten aufgewendet.

AAMOF

Viel wichtiger sind heute Twitter, SMS und Co. Die Folge ist, dass selbst ein normal leserlicher Brief für viele zur Herausforderung wird. Tatsache ist (oder auch AAMOF – as a matter of fact), dass heute Anglizismen, Abkürzungen und Formulierungen jenseits der deutschen Grammatik an der Tagesordnung stehen. Ganz zu schweigen vom Wortschatz: Für ein Alltagsgespräch benötigt man rund 400 bis 800 Wörter – das klappt meist noch passabel. Zum Verstehen anspruchsvollerer Texte benötigt man bereits rund 5.000 Wörter. Das scheint immer öfter zu viel verlangt zu sein. Zum Vergleich: Der Duden enthält rund 120.000 Stichwörter. Zudem findet sich im Wortschatz immer mehr Ghetto-Slang. Ganz nach dem Motto: Maul, Alter.

Buchstaben-Chaos

Sätze ohne Satzbau sind die eine ­Sache. Rund eine Million Menschen in Österreich können aber bereits nicht mehr sinnerfassend lesen. So hat jeder vierte 55- bis 65-Jäh­rige nur eine niedrige Lesekompetenz, außerdem hat jeder Dritte mit maximal Pflichtschulabschluss Probleme beim Lesen – das bescheinigt die PIAAC-Studie aus dem Vorjahr. 42 Prozent der Unternehmer in Gastgewerbe, Transport, Logistik, Landschaftsbau und Bau geben laut Stiftung Lesen in Mainz sogar an, mindestens einen Analphabeten im Betrieb zu kennen.

Reizüberflutung

Hier also diverse Social Media-Accounts, da jede Menge E-Mails, dort die WhatsApp-Gruppen, dazwischen ein Anruf und ein Termin – viele Menschen verhalten sich inzwischen wie ein nervöser Flipperautomat. Und das ist auch kein Wunder: Vor 100 Jahren war es noch so, dass sich das Wissen alle 100 Jahre verdoppelt hat, heute passiert dies alle 24 Stunden. „Wir werden so überschwemmt mit Information, dass wir uns nur noch zurechtfinden können, wenn alles extrem vereinfacht ist“, erklärt Hirnforscher Ernst Pöppel. Wir können uns zudem immer weniger lang aufmerksam auf eine Sache konzentrieren. Joseph Ferrari von der DePaul University in Chicago fordert sogar, dass „chronisches Verschieben“ als medi­zinischer Terminus eingeführt wird. Seine Studie ergab, dass 20 Prozent der Bevölkerung an massiver Zerstreuung leiden.

Sei ein Star!

Um ehrlich zu sein, hat man ja heutzutage ohnehin kaum noch Zeit, ­etwas für seine Allgemeinbildung zu tun. Denn praktisch jeder kann mit einem Blog, auf Facebook oder Twitter heute ein Star werden – zumal die letzten Schamgrenzen längst gefallen sind. Immerhin gibt es 3,24 Millionen. Facebook-Nutzer allein in Österreich. Nirgendwo sonst, hat man ein so großes Publikum. Und wer weiß, was nach der Ice Bucket Challenge für ein neuer Hype naht? Egal wie blöd die Idee auch sein mag: Hun­derte Millionen Menschen weltweit werden mitmachen.

Digitaldemenz

Der Begriff „Bildung“ kann mittlerweile also wohl vom „Bildschirm“ abgeleitet werden. Auch weil neben dem Fernseher der PC-Bildschirm heute die zweite Quelle unseres Wissens ist. Über die einfachsten Fragen wird heute gar nicht mehr nachgedacht – Google wird es schon wissen. Ganze 3,5 Milliarden Suchanfragen werden täglich über die Plattform gestellt – Tendenz steigend. Was macht es da schon, wenn man Watergate für eine Wildwasserbahn hält? Ironisch ist aber schon, dass Menschen, die eine Suchmaschine nutzen, glauben, sich mehr merken zu können – das Gegenteil ist nämlich der Fall.

Bildungsschere

Wer sich nichts merken kann, schneidet auch bei IQ-Tests schlechter ab. Der IQ alleine entscheidet aber nicht, ob jemand für eine Aufgabe geeignet ist oder nicht. Er stellt nicht viel mehr fest als die Eignung, sich schnell in Dinge einzuarbeiten. Und dafür muss der Grundstein früh gelegt werden. „Leider haben aber nicht alle Kinder in unserem Land die gleichen Chancen, die gleiche Betreuung. Bildung wird in Österreich immer noch viel zu stark vererbt“, erklärt Humangenetiker Markus Hengstschläger und spielt damit darauf an, dass Kinder von Eltern mit akademischem Abschluss deutlich besser in der Schule sind. Im Umkehrschluss haben Kinder aus Arbeiterfamilien kaum Chancen – auch die aktuelle OECD Bildungsstudie bemängelt das.

Wirtschaftsschaden

Diese Entwicklung hat auch volkswirtschaftlich massive Auswirkungen. Alfred Freund­linger von der Abteilung Bildungspolitik der WK Österreich bringt es auf den Punkt: „Wir haben derzeit eine Schulpflicht, keine Bildungspflicht. Ohne eine solide Basis, kann aber kaum komplexeres Wissen vermittelt werden. Mir ist erst kürzlich der Fall von einem Schüler zu Ohren gekommen, der die Schulpflicht beendet, die Volksschule aber nie abgeschlossen hat. Das ist ein Extremfall, aber es ist keine Seltenheit mehr, dass Lehrstellensuchende nicht wissen, wie viel zehn Prozent von 100 sind. Geschweige denn, was gutes Benehmen ist.“ Wichtig sei deshalb laut Hengstschläger, Individualität und Talent zu fördern: „Nach dem Motto ,Die Mehrheit kann nicht ­irren‘ zu leben, ist zwar bequem, bringt uns aber nicht weiter.“ Dann können wir ja nur hoffen, nicht auf Nimmerwiedersehen in der eigenen Bildungslücke zu verschwinden.

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